In den Achtzigern war Mutter Nora eine beinharte Verfechterin des Kampfes gegen Atomkraft, welcher zu Tschernobyl-Zeiten vorerst seinen Höhepunkt erreichte. Ebenso war sie im Kampf gegen das Establishment und gegen das Spießertum ganz vorn mit dabei – gemeinsam mit ihren Freundinnen, Freunden und Gleichgesinnten wollte sie seinerzeit die Welt verbessern. Freiheit! Selbige Freiheit – oder besser gesagt: Freizügigkeit? – praktizierte man in ihrer Generation auch im Liebesleben. »Atomkraft? Nein Danke!« und gar das hippieske »Make love, not war!” waren zwei der Lebensmottos, mit denen sich Nora identifizierte. Ihr heutiges Leben ist hingegen beinahe das Gegenteil, denn sie ist in der eifrigen, wenn auch stressigen Arbeitswelt angekommen, entspannt sich lieber anstatt auf der Straße zu demonstrieren und skandieren – und leistet sich gerne auch mal etwas Luxuriöses.
Ihre Tochter Charlie ist mittlerweile ganze zwanzig Jahre alt und hat ihren eigenen Kopf. Allerdings einen, der ähnlich tickt wie der ihrer Mutter damals – das wird Nora jedoch erst so richtig bewusst, als sie erfährt, dass das Töchterchen soeben bei der Blockade eines Castortransports verhaftet und des Landfriedensbruchs beschuldigt wird. Doch wenngleich Charlie damit gegen das Gesetz verstoßen hat, versucht die gleichermaßen verständnisvolle wie schockierte Nora ihrer großen Kleinen selbstverständlich aus der Patsche zu helfen. Charlie hingegen sieht das alles viel entspannter und weiß um Mamas rebellische Zeit – ihr Plan ist es, sie dazu zu überreden, ihre damaligen Mitrebellen zu reaktivieren, damit diese ihr beim bevorstehenden Gerichtsverfahren reichlich Unterstützung leisten.
Unterbrochen wird diese Grundhandlung von einer weiteren solchen, denn gleichzeitig ist der Erstlingsroman Ellerbrakes eine Retrospektive Noras – immer wieder lässt sie in Flashbacks Früheres Revue passieren, schwelgt in Erinnerungen – und denkt manche Gedanken zweimal, denn für eine spießige Mutti ist sie doch eigentlich viel zu abgebrüht und tolerant, und irgendwo tief in ihr müssten doch auch noch Reste des Revoluzzertums stecken. Oder ist sie tatsächlich schon so “alt” geworden? In ihren Flashbacks spielen nicht nur all die physisch-politischen Aktionen eine Rolle, sondern auch die Erinnerungen an ihre Zeit, in welcher sie einiges an Erfahrung mit dem anderen Geschlecht gesammelt hatte. In diesem Zuge wird ihr so einiges bewusst, von dem sie selbst beinahe entsetzt ist. Doch in der Gegenwart gibt es ebenso so einiges, was in der Form eigentlich untragbar ist. Beispielsweise will Robert, ihr Ex, Charlie ebenfalls zur Seite stehen – dumm nur, dass er ständig mit seiner neuen Flamme aufkreuzt. Dann ist da noch Charlies Beziehung zu Malte, mit der sie nicht gerade einverstanden ist.
Einst im Dunstkreis der grünen Politik unterwegs, bewegte sich die Karriere der 1959 in Bremen geborenen Autorin in Richtung Film- und Fernsehproduktion – doch mit ihrem Debüt “Guten Morgen, Revolution – du bist zu früh!” wagte sich Kirsten Ellerbrake nun obendrein an die Schriftstellerei, und mit diesem Erstling hat sie eine angenehm ausgewogene Melange aus verschiedensten Komponenten erschaffen. Auf der einen Seite schwingt immer wieder ein sozialkritischer Unterton mit, der jedoch niemals belehrend wirkt – selbiges gilt auch für die in die Story verpackten Denkanstöße hinsichtlich Umweltbewusstsein und politischem Bewusstsein, obwohl Fukushima anhand der Zeit, in der dieser Roman spielt, ebenfalls Thema ist -, und auf der anderen Seite bringen die menschlichen Komponenten (Mutter-Tochter-Beziehung, Noras wilde Zeiten, Generationenclash, Männergeschichten, Frausein, das Miteinander damals und heute) das Ganze wieder in ein Gleichgewicht, sodass der Roman nie durch latente Einseitigkeit in Schieflage gerät.
Diese Kombination aus Gegenwart und Retrospektive wird warmherzig, ehrlich und unterhaltsam, oftmals auch wunderbar flapsig in der ersten Person aus Noras Sicht erzählt, und hierdurch fällt es äußerst leicht, sich in die Protagonistin hineinzuversetzen. Amüsiert schüttelt man den Kopf über ihr Verhalten einst und jetzt, pflichtet ihr bei ihren gedanklichen Ausführungen bei und fühlt sich oftmals wie ein guter Freund, dem sie alles bei einem langen Abend bei ein paar gemütlichen Gläsern Wein oder Bier erzählt. Ohne ausschmückende Worthülsen, sondern zu hundert Prozent erzählenswert, in all seinen Details. Mit gedanklichen Abschweifungen selbstverständlich, aber nie den Fokus verlierend.
Mit Katja Riemann, die mittlerweile eine bis ins Jahr 1985 zurück reichende Filmographie vorweisen kann, aber auch gerne als Sängerin ihr Talent unter Beweis stellt, hätte man kaum eine passendere Sprecherin finden können, denn die warme, weiche und junggebliebene Stimme ist die perfekte Schnittstelle zwischen Erzählerin und Hörer, was gerade die empathische Ader des Zuhörers noch einmal beachtlich zu weiten weiß. Die Phrasierung, die Wiedergabe der Emotionen, der Enthusiasmus beim Erzählen – all das beherrscht Riemann souverän, ohne dass sich langweilende Routine breit macht.
“Guten Morgen, Revolution – du bist zu spät!” als Hörbuch ist ein stimmiges Gesamtpaket, bei dem man gerne aufmerksam dran bleibt – besonders dann, wenn man humorvoller, gefühlvoller Belletristik offen gegenübersteht und sich zudem gerne mit anderen aufregt.
Cover © Random House Audio
- Autor: Kirsten Ellerbrake
- Titel: Guten Morgen, Revolution – du bist zu früh!
- Label: Random House Audio
- Erschienen: 19.08.2013
- Sprecher: Katja Riemann
- Spielzeit: 307 Minuten auf 5 CDs
- ISBN: 978-3-8371-2285-5
- Sonstige Informationen:
Gekürzte Lesung
Buch erschien bei Kiepenheuer & Witsch
Produktseite mit Hörproben, Kaufmöglichkeiten und mehr
Wertung: 12/15 dpt