Friedhelm Kändler – Die Abenteuer der Missis Jö (Buch)


Friedhelm Kändler - Die Abenteuer der Missis Jö (Buch) Cover © Edition TiamatPostbote Werner Sonnenbein ist Urlaubsmuffel aus Überzeugung, doch seine Frau Hertha hat das Unmögliche möglich werden lassen und konnte ihren Herrn Gemahl überzeugen, die Briefträgerei doch einmal für kurze Zeit Briefträgerei sein zu lassen und gemeinsam mit ihr die Heimat zu verlassen. Doch selbstverständlich muss nun eine Vertretung her, welche in dem hochgewachsenen Pierre de Mon gefunden wird. Jener Diplompädagoge, welcher sein Diplom im Kühlschrank neben dem Knäckebrot aufbewahrt, wenn denn mal das Kaffeepulver aufgebraucht ist, kann das Geld ob seines finanziell eher chronisch kargen Lebens gut gebrauchen und sagt den Sonnenbeins zu. Damit Pierre nun weiß, womit und mit wem er es zu tun haben wird oder besser nicht zu tun haben sollte, laden sie ihn zu sich ein, damit sie ihm bei Kaffee und Gebäck die relevanten Details mitteilen können.

Sie warnen ihn beispielsweise vor der unberechenbaren, eigenartigen Missis Jö. Die kleine, mittelalte, lebhafte Frau habe eine im Schrank wohnende Mutter, einen sehr merkwürdigen Sohn und habe Werner Sonnenbein bereits einmal gehörig Gehirn und Leben durcheinandergewirbelt. Mit diesem Wissen bewaffnet begibt sich Pierre de Mon bald gen Arbeit und trifft auf die Frau, bei der er Vorsicht walten lassen solle. Und in der Tat erweist sich Missis Jö als äußerst unknonventionell. Ihr Kaffee ist unfassbar gut, den Schwierigkeitsgrad ihres Puzzles erhöht sie mittels angezogener Topflappen, und zu ihrem Telefon hegt sie eine sonderbare Beziehung. Pierre ist erwartungsgemäß verstört und stellt so seine Vermutungen an. Doch kaum ist er in ihrem Bann gefangen, gerät die alte Welt des Pierre de Mon ins Wanken und eine neue Welt offenbart sich.

Wer nun der Meinung ist, dies mute alles doch sehr bizarr an, wird sein blaues oder eher grünes Wunder erleben. Oder gar ein rotes Lolli-Wunder. Denn diese schrägen Schilderungen und Befürchtungen sind nur der Anfang. “Die Abenteuer der Missis Jö” wurde schließlich vom Erschaffer des Wowo (»die Frage auf die Antwort des Dada«) zu Papier gebracht, und man kann sehr wohl behaupten, dass dieser 159-Seiter keinesfalls mehr dadaistische, sondern in der Tat wowoistische Elemente in sich trägt, und der Rezensent geht sogar noch einen Schritt weiter und würde das Buch gar als weißdergeierweißdergeieristisch (»die ratlose Antwort auf die Frage auf die Antwort des Dada«) einstufen.

Pierre de Mon auf seinem skurril-schrägen Selbstfindungstrip (mit Betonung auf Trip) zu begleiten ist ein wenig so, als lese man literarischen Free Jazz. Die ganze Story ist eine wortgewordene Jamsession, bei der man nie weiß, welchen Schwenk sie als nächstes tun wird – stellenweise entstehen im Kopf Bilder eines bislang im Giftschrank weggesperrten Tim-Burton-Films, bei welchem jenem Regisseur heimlich Substanzen in den Tee gemischt wurden, die in seinem Kopf für Synapsenpolka sorgten. Denn oftmals wirken die Figuren enorm unwirklich, die Farben schillern grellbunt und das Gesamte wirkt völlig kaputt-trickfilmhaft.

Einen wirklichen Sinn aus “Die Abenteuer der Missis Jö” zu extrahieren bedarf einer großen Phantasiegabe. Vielmehr sollte man den aktuellsten der nunmehr über dreißig Outputs – der 1950 in Niedersachsen geborene und heuer in Hessen lebende Kändler veröffentlicht seit 1981 -, einmal mehr als zerebrales Feuerwerk verstehen und genießen und nicht bemüht zwischen den Zeilen nach einer Aussage suchen. Kändler betreibt wortkünstlerische Arbeit, von der er sich treiben lässt. Da ist eine Leinwand, auf die werden mit den gerade verfügbaren Mitteln Kleckse, Spritzer und Pinselstriche aufgetragen, und am Ende darf man das fertige Werk bewundern und beim Betrachten seinen eigenen Gedanken, Ansichten und Assoziationen emporkochen lassen und ihnen nachhängen.

Sympathisch ist, dass Kändler bei seinem neuesten Werk diesen künstlerischen Anspruch und Freigeist nicht nach vorne spielt, sondern – rein subjektiv-spekulativ wahrgenommen! – offenbar eher aus dem Bauch heraus agiert. Im Englischen gibt es da eine wunderbare Redewendung, für die es im Deutschen leider keine wirklich adäquate Übersetzung gibt, die aber die Arbeit des auch als Bühnenautor und Dichter agierenden Herrn sehr treffend charakterisiert: »to let the chips fall«.

Während der Inhalt Geschmackssache ist und es einen bei der Polarisierung, die Kändlers Tun mit sich zieht, zwangsläufig entweder auf die eine oder auf die andere Seite schlägt, muss man das Lektorat definitiv ein wenig tadeln, denn an einigen Stellen dieses Romans hatte es wohl nicht gerade seinen besten Tag: Der Fehlerteufel hat hier und dort zahlreiche Piekser mit seinem Dreizack hinterlassen, und da sind so einige Fehler nach wie vor vorhanden, welche dem, der oder denen, die dieses Buch einer Korrektur unterzogen hatten, offenbar entgangen sind.

Ansonsten kann man “Die Abenteuer der Missis Jö” ein hohes Maß an Interessanz attestieren. Wichtig ist, vor der Lektüre abzuwägen, wie open-minded man wirklich ist, denn letztendlich ist dieser quietschgrüne Roman eine fürwahr sonderbare Angelegenheit, zu der sich einzulassen man bereit sein muss.

Cover © Edition Tiamat

 

 

Wertung: 10/15 dpt


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