Zoran Drvenkar – Du (Buch)


Zoran Drvenkar - Du (Buch)Ragnar Desche, genannt “Der Logist”, nimmt in Berlin gewissermaßen die Drogenmonopolstellung ein. Niemand nimmt ihm etwas weg. Sollte es doch jemand tun, muss er bezahlen – wenn nicht mit Geld, dann mit dem Leben. Seinen Sohn Darian möchte er auf den für sich rechten Weg bringen – er soll in seine Fußstapfen treten. Unverhofft geraten fünf Teenagermädchen, “Die süßen Schlampen” in diesen Dunstkreis: Nessi, Taja, Stinke (die den Spitznamen aufgrund ihrer Parfümaffinität trägt), Rute und die Asiatin Schnappi – urplötzlich besitzen die Mädels fünf Kilogramm Heroin und eine Waffe und wissen nicht, wohin mit den bewusstseinserweiternden Substanzen.Verkaufen? Verstecken? Zurück legen? Vernichten?

Desche möchte den Stoff wieder zurück haben, aber das Görenquintett denkt überhaupt nicht daran, ihn wieder herauszurücken. Somit reiten sich die Mädchen immer mehr ins Chaos, und ihnen bleibt nur noch die Flucht nach vorn. In diesen Strudel aus Panik, Angst, Übermut und dem daraus resultierenden Adrenalinrausch ziehen sie mehr Menschen mit hinein, als ihnen lieb ist, doch ihnen bleibt kaum eine Möglichkeit, im übertragenen Sinne zurück zu schauen oder auch bloß eine kurze Atempause einzulegen.

Ferner tingelt ein Mann, das Mythos namens “Der Reisende”, seit 1995 quer durch Deutschland und hinterlässt eine Leichenspur. Wo er ist, überlebt keiner. Er tötet sie alle mit seinen bloßen Händen. Nur Kinder lässt er leben. Man fürchtet ihn, weil man sterben wird, sobald man ihm begegnet. Selbst über eine Dekade nach dem Beginn seiner Reise ist er noch nicht am Ziel angekommen. Was sowohl er, die Mädchen, Darian und Ragnar Desche allesamt nicht ahnen, ist, dass sie sich allesamt unbemerkt aufeinander zu bewegen.

Zoran Drvenkar, der mit seinen Krimis und Thrillern wohl einen “bösen” Gegenpol zu all seinen Kinder- und Jugendbüchern zu benötigen scheint und seit 1999 schon mehr als zwanzig Auszeichnungen für seine äußerst unterschiedlichen Werke erhalten hat, hat mit “Du” einen Thriller erschaffen, der durch seine feingliedrig verworrenen, zahlreichen, intelligent miteinander verstrickten und verknüpften Handlungsstränge eine faszinierende Komplexität besitzt. Auch die multiprotagonistisch angelegte Schreibweise sorgt dafür, dass man als Leser bei jedem einzelnen Kapitel zu einem anderen Protagonisten schwenken muss – allein “Der Reisende”, Ragnar, Darian, die fünf Mädchen sowie eine Handvoll weitere Beteiligte sorgen dafür, dass in diesem Buch insgesamt mehr als zehn Figuren aus ihrer Sicht erzählen.

Wobei “aus ihrer Sicht” nicht ganz stimmt, denn das komplette Buch ist in der zweiten Person, sprich in “du”-Form, geschrieben, sodass der Leser bei jedem der Charaktere vermittelt bekommt, er selbst werde zu ihm beziehungsweise ihr. Das wirkt anfangs sehr verwirrend, doch nach nicht einmal einhundert Seiten hat es einen bereits in die Story hineingerissen wie in einen reißenden Strom, und letztendlich ist dieser direkte Draht zum Leser, dieses Schlüpfen in das jeweilige Kostüm, eine perfekter Tunnel in die innere Welt der einzelnen Figuren. Introspektive ohne Umwege. Verstärkt wird dies durch die extrem detaillierten Darstellungen von Emotionen und Wahrnehmungen sowie die plastisch-bildhafte, ungeschönte Schreibweise Drvenkars. Das mutet sehr “creepy” an und ist es letztendlich auch auf eine faszinierende Art.

Die Gegenwart wird immer wieder durch eingestreute Rückblenden einzelner Figuren (beispielsweise die Kindheit von “Der Reisende” oder Tajas Verbindung zu ihrem Vater) unterbrochen, wodurch sich das Verhalten des einen oder anderen schrittweise besser erklären lässt, doch bis zum Schluss tappt der Leser als Beobachter weiterhin im Dunkeln und weiß nicht, welche Rolle erselbst dabei spielt – und was hier überhaupt geschieht inmitten all dieser blutigen, ungeschönt und schonungslos dargestellten Ereignisse.

In puncto Intensität sucht “Du” seinesgleichen, und die realistisch anmutenden Szenarien und die gnadenlose Abgefucktheit, die die Welt zu einem Minenfeld des Bösen werden lässt, lassen einen als Leser kaum noch an das Gute glauben. Hoffnungsansätze werden gnadenlos zerstört, Silberstreife am Horizont werden mit einem pechschwarzen, überdimensionalen Permanentmarker zugeschmiert, und man weiß nicht, wann diese Abwärtsspirale aus Gewalt, Lügen, Macht, Sucht, Hass und Rache ihr Ende findet. “Du” atmet den Pesthauch einer verfaulenden Gesellschaft. “Du” hustet den Bodensatz seelischer Abgründe aus. Doch so düster, negativ und dunkelschwarz der Thriller auch ist, so packend ist er.

Kritik wäre schlimmstenfalls am Lektorat zu üben, dem hier und dort mal der ein oder andere Fehler durchgerutscht ist, doch das erreicht niemals ein Maß, das den Lesefluss zu stören vermag. Ansonsten bekommt man, pardon, bekommst du einen Thriller der qualitativen Oberklasse geboten.

 

Wertung: 12/15 dpt

 


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