Stefanie de Velasco – Tigermilch (Buch)

Stefanie de Velasco - Tigermilch (Buch) gross © Kiepenheuer & WitschMan nehme eine Schoko-Müllermilch, kippe sie weg und ersetze den Inhalt durch Schulmilch, Maracujasaft und Mariacron. Dieses spezielle Getränk namens Tigermilch mixen sich die unzertrennlichen vierzehnjährigen Freundinnen, die deutsche Nini und die mit ihrer Familie aus dem Irak geflohene Jameelah, gerne auf der Schultoilette zusammen. Was so in der Schule passiert, interessiert die beiden Mädchen dabei eher wenig – vielmehr leben sie in Berlin in ihrer ganz eigenen Welt, treffen sich mit dem Sprayer Nico a.k.a. “Sad”, lungern mit ihm »auf der Kurfürsten« und »am Planet« herum und erkunden neugierig das Leben auf den Straßen der Metropole, wobei sie Experimenten mit Drogen und Alkohol kaum Abneigung entgegenbringen. Neugierig, wie sie sind, wollen sie zudem selbstverständlich langsam auch mal wissen, wie das so mit Sex ist, und so versuchen sie in jenem heißen Sommer, auch das Projekt Defloration langsam aber sicher anzugehen.

Die zwei Teenager, im Speziellen die voller Lebenskraft steckende Jameelah, philosophieren auf ihre ganz eigene Art und spinnen Gedankenfäden nicht nur von A nach B, sondern weiter, bis ein ganzes Netz an Gedanken entsteht. Ebenso ist Jameelah eine begeisterte Sprachjongleurin. Da wird schon mal die O-Sprache gesprochen und aus Filter Folter, aus Geld Gold und aus Serben Sorben. Oder aber werden Buchstaben vertauscht und aus Tagen und Nächten Nage und Tächte. In ihrem Reich gibt es Lustballons und Nacktschichten.

Immer mehr wird ihre soziale Umgebung dort draußen zu einer Ersatzfamilie, doch die raue und ihnen dennoch sympathischere Welt wird erschüttert und gerät bedrohlich ins Wanken, als sich in der Familie des guten gemeinsamen Freundes Amir, mit dem sie regelmäßig ins Schwimmbad gehen und ihm immer schützend beistehen, ein wahres Drama abspielt, von dessen Höhepunkt sie Zeuge werden. Ihre Freundschaft zueinander steht bald vor einer ernsthaften Zerreißprobe.

Die 1978 in Oberhausen geborene und heute in der Stadt, welche auch Schauplatz des Buches ist, lebende Stefanie de Velasco platzt mit einem überraschend starken Debüt in die Literaturszene – mit einem Debüt, das mehrgleisig für Aufmerksamkeit sorgen dürfte. Denn einerseits zeigt sie hochsensibel auf, wie stark und zu zerreißen drohend das Band einer innigen Freundschaft zugleich sein kann. Andererseits wird hochauthentisch, realitäts- und lebensnah das Stadtleben zweier junger Mädchen skizziert, die auf ihre Familien kaum zählen können und nur miteinander wirklich existieren und leben können.

Dabei schreibt de Velasco hochemotional, ohne je einen kitschigen Ton anzuschlagen. Stattdessen schenkt sie Nini und Jameelah ihre ganz eigene Art des Umgangs miteinander und mit sich selbst, wobei gerade dieses Eigene und Persönliche, was die beiden prägt, das ist, was dem Leser ans Herz geht. Diese ganz besondere, über Verbalkommunikation hinaus gehende Sprache birgt eine Glut in sich, die sich auf die weiteren Buchseiten überträgt und sie zum Brennen bringt – sie saugt einen durch ihre Intensivität in den Kosmos der beiden ein und bildet regelrecht eine unsichtbare Kapsel um Buch und Leser.

Die verspielten Gedanken der beiden Freundinnen stimmen oftmals sehr nachdenklich und erfrischen durch ehrliche Naivität, wobei gerade diese Naivität manchmal etwas ist, was Erwachsenen aufgrund ihrer Abgebrühtheit und gar Resignation häufig verlustig geht. Doch ebenso bringen sie einen zum Schmunzeln und sorgen für leserseitigen Synapsenkarneval, denn gelegentlich erwischt man sich selbst spontan dabei, die Gedanken und Wortspiele der beiden weiterzuknüpfen, weiterzuspinnen und weiterzuspielen.

So locker und luftig “Tigermilch” allerdings stellenweise anmutet, so traurig und trist sind manchmal die Bilder dieser »verfaulten Welt«, die auf die gedankliche Leinwand projiziert werden. Leben mit Dreckkruste. Erlebnisse auf der Straße und der Schmutz und Staub der Großstadt. Riechen. Fühlen. Miterleben. Dieses Erstlingswerk ist nicht nur eine Art “Roadmovie zu Fuß”, in dem ein Teenagerduo seinen Weg geht, sondern auch ein Lauf durch den Irrgarten der Emotionen, Sehnsüchte und Ängste – in seiner Gesamtheit stellt “Tigermilch” ein fast intravenös ins Blut fließendes Rauschmittel dar, dessen Wirkung man gierig aufsaugt. Ein Rauschmittel namens Leben, mit all seinen schönen und hässlichen Eigenschaften und Wirkungen.

Einzig und allein die eigenwillige Art und Weise, wörtliche Rede einzubinden, ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, da die gesprochenen Worte weder mit Anführungszeichen noch mit vorangestellten Halbgeviertstrichen nach außen gekehrt werden, sondern direkt im Text mitfließen – doch nach einigen Kapiteln darf man erstaunt feststellen, dass man sich an diese Form gewöhnt hat und es so, wie es ist, genau richtig ist, da dies den ganz speziellen Geist dieses Buches perfekt widerspiegelt und letztendlich gar nicht anders hätte sein dürfen.

Cover © Kiepenheuer & Witsch

  • Autor: Stefanie de Velasco
  • Titel: Tigermilch
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 15.08.2013
  • Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
  • Seiten: 288
  • ISBN: 978-3-462-04573-4
  • Sonstige Informationen:
    Info & Erwerbsmöglichkeit
    Auch als E-Book erhältlich

Wertung: 13/15 dpt

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2 Kommentare
  1. Wunderbar, danke Chris- das hat mich richtig neugierig gemacht!

    Da werde ich wohl gleich tatsächlich trotz Berlins momentanen Gewittersommers zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose, lesefutterreiche Zeit
    Bianka

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