Franz Kafkas Leben war eines Tages interessant geworden. Der deutschsprachige Jude aus Prag hat zweifellos Literaturgeschichte geschrieben. Im Anschluss daran sezierten Wissenschaftler seine Tagebücher, seine Briefkorrespondenzen und seine Lebensgeschichte, weil Kafkas Texte ihre Welt auf den Kopf stellten. Die Beziehung zum Vater musste als Mikroskop zum besseren Verständnis herhalten. Aus der Art und Weise wie Kafka seine erste Verlobte, Felice Bauer, in täglichen Briefen hin- und herschubste, extrahierte man Pathologien, die man als Schreibmechanismen seinen Geschichten unterstellte. Um der perversen, voyeuristischen, psychoanalytischen Herangehensweise noch ein weiteres Tabu zum Befummeln zu geben, beäugte man auch Kafkas Beziehung zu seiner Schwester Ottla. All das bleibt dem Leser von Louis Begleys “Biographical Essay” weder in literarischer noch in biographischer Richtung erspart.
Die literaturwissenschaftlichen Fehlleistungen werden von Begley, der neben einer jüdischen Abstammung auch die juristische Ausbildung mit Kafka gemeinsam hat, in keinster Weise kritisch hinterfragt. Im Gegenteil: Der fünfteilige Essay suhlt sich in Kafkas extremem Charakter wie Constanze Rick in den immer gleichen Fotos von Prominenten in Shorts. Am Ende könnte der Leser der Idee verfallen, dass all diese oben genannten Erklärungen eine Daseinsberechtigung durch das Leben des Prager Autors gewonnen hätten. Das jedoch sei dann der Tag, an dem Franz Kafkas Literatur uninteressant geworden ist.
Belegt mit ausführlichen Zitaten aus Briefen und Tagebuchauszügen baut Begley Erklärungen zu Kafkas Leben und seiner Person zusammen. Einsortiert in die fünf Schwerpunktthemen Kafkas Beziehung zu seiner Familie, Kafka und das Judentum, Kafka und seine (gestörte) Sexualität, Kafkas Krankheit und zum Schluß dann auch Kafkas Literatur wird die Lebensgeschichte des Ausnahme-Autors aufgefädelt. Dem Biographen gelingt es mit einer recht umfrangreichen Recherchearbeit, die Lebensumstände im Prag um die Jahrhundertwende nachvollziehbar aufzuzeigen. Abseits seines Untersuchungsgegenstandes kann Begley auch den wichtigen Menschen in Kafkas Leben eine eigene Stimme verleihen.
Zwischen Erklären, Evozieren und Emphase hält sich der Text jedoch kaum auf den Beinen. Bleischwer werden lose Details mit ellenlangen Zitaten belegt. Dann wieder hebt Begley ab und nötigt den Leim für seine Charakteranalyse wilden, unprofessionellen Spekulationen ab. Folgende Zitate zeigen neben einer haltlosen Argumentation zudem, wie stark das Thema Sexualität forciert wird.
»Man darf annehmen, daß sie (Felice Bauer) mit Kafka allein am richtigen Ort, ihre Jungfräulichkeit ohne Umschweife aufgegeben hätte. Kafka hätte nur nach Berlin kommen oder sich mit ihr irgendwo auf halber Strecke treffen und sie in ein Hotelzimmer einladen müssen (…)«
»Und allmählich wird klar, daß sein (Kafkas) Hauptproblem wohl weniger in einer sexuellen Funktionsstörung als in einer Art Schreibhemmung besteht.«
Das Thema der sexuellen Funktionsstörung bringt Begley einige Seiten zuvor selbst erst ins Spiel, indem er einen Brief von Kafka an Felice einer fragwürdigen sexuellen Lesart unterzieht.
»Meine eigentliche Furcht – es kann wohl nichts schlimmeres gesagt und angehört werden – ist die, daß ich Dich niemals werde besitzen können. Daß ich im günstigsten Fall darauf beschränkt bleiben werde, wie ein besinnungslos treuer Hund Deine zerstreute mir überlassene Hand zu küssen, was kein Liebeszeichen sein wird, sondern nur ein Zeichen der Verzweifelung des zur Stummheit und ewigen Entfernung verurteilten Tieres…«
Auch im letzten Abschnitt seines Essays bleibt Begley im Intimen, erzählt einige Erzählungen Kafkas nach und kommt zwangsläufig wieder auf das Sexualleben seines Gegenstandes zurück. Natürlich gibt es viele sexuelle Anspielungen in Kafkas Erzählungen.
Die Frage nach dem Stellenwert der Biographie und der Persönlichkeit eines Schriftstellers innerhalb seines literarischen Schaffens kann hier nicht mit einer kleinen Buchbesprechung vom Tisch gefegt werden. (Der Rezensent misst beiden Aspekten nur durch bestimmte Ereignisse [Kriege, gesellschaftliche Krisen] einen Stellenwert bei.) Begleys Arbeit liefert sicherlich mannigfache Informationen für Kafka-Interessierte. Im Vorbeigehen befeuert der Biograph mit seinen wilden Rückschlüssen über die inneren Mechanismen Franz Kafkas aber eine falsche Lesart von Literatur, die ihre Vielfältigkeit zugunsten einer einfachen, fixen Idee einbüßt.
Die Psychoanalyse und ihr anverwandte Wissenschaften, die hier neben einer plakativen Lust am Geschlechtlichen den inneren Motor des Essays darstellen, besitzen aber eine eingebaute Kinderkrankheit. Sie lassen ihre Anwender im Glauben einer Allerklärung, statten sie mit der Allmacht eines eindimensionalen Erklärungsprinzips aus, das gerade in Verbindung mit Kafkas Texten lächerlich erscheint. Begley erliegt wie viele Kafka-Nerds der Hybris, wenn schon nicht die Literatur im Ganzen, so doch einen guten Teil von ihr, vor allem aber Kafka selbst verstanden zu haben.
»Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk? Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloß hat »vielerlei Eingänge«, deren Benutzungs- und Distributionsgesetze man nicht genau kennt. (…) Der Bau in der gleichnamigen Erzählung scheint zwar nur einen Eingang zu haben; allenfalls denkt das Tier an die Möglichkeit eines zweiten, bloß zur Überwachung. Aber das ist eine Falle, aufgestellt vom Tier und von Kafka selbst; die ganze Beschreibung des Baus dient zur Täuschung des Feindes. Also steigen wir einfach ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang (…). Wir müssen nur darauf achten, wohin er uns führt (…) wie die Karte des Rhizoms aussieht und wie sie sich ändert, sobald man anderswo einsteigt. Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu »deuten« versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will.«
Gilles Deleuze, Felix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Suhrkamp.
Cover © Pantheon
Fotos © Christian Bischopink & Anne Dabringhausen
- Autor: Louis Begley
- Titel: Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Über Franz Kafka
- Originaltitel: The Tremendous World I Have Inside My Head.
Franz Kafka: A Biographical Essay
- Übersetzer: Christa Krüger
- Verlag: Pantheon / Random House
- Erschienen: 09/2009
- Einband: Paperback mit Klappenbroschur
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3-570-55095-3
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit aller Formate
Wertung: keine