Ich weiß gar nicht mehr, ob Marshall Raylan Givens und ich schon immer einen ähnlichen Kleidungsstil hatten oder ob ich mich im Lauf der Jahre an ihn angepasst habe. Eine Äußerlichkeit unterscheidet uns auf jeden Fall noch: Ich traue mich nicht, den ganzen Tag mit einem weißen Stetson herumzulaufen.
Jawohl, Herr Givens ist ein Cowboy, ein Held. Ein Held wie ich ihn seit meiner frühsten Jugend bewundere. Er ist Han Solo, Indiana Jones, Terence Hill, Adriano Celentano, Clint Eastwood, John McClane, Colt Seavers und Danny Ocean in einem. Ein zäher Bursche, ein lässiger aber dosierter Redner, ein gutaussehender Angeber, ein gepflegt abgerissener Egomane und ein gezügelter Weiberheld mit einer linkischen Art, die gelegentlich ans Schusslige grenzt. Bei aller virilen Strahlkraft ist er im Prinzip eine traurige Figur. Er hat ein unausgeschöpftes Aggressionspotenzial, verhält sich von Zeit zu Zeit beinahe autistisch, kommt aus einer zutiefst verhunzten Familie und wird auch selbst kein besonders guter Vater werden. Am Ende ist er freilich immer noch die beste Haut unter all den hinterfotzigen Opportunisten in Harlan County, Kentucky. Was Raylan Givens aber besonders charmant macht, ist sein Wissen um die eigene Unvollkommenheit, mal süffisant ausgespielt, mal beschämt unter den Teppich gekehrt.
Im Prinzip hat Timothy Olyphant die drastischere Variante seiner Figur bereits in der grandios grimmigen Westernserie “Deadwood” gespielt, aber dort war er zur größeren Kontrasten gezwungen, um nicht als bedingungsloser Sympathikus durchzugehen. In “Justified” darf er mehr sein als eine halbhistorische und symbolische Figur. Er darf seine eigene Geschichte schreiben. Er darf ein ziemlich glaubhafter, weil fehlerhafter Mensch sein. Er ist sympathisch, obwohl er einen eher unmodisch breiten weißen Cowboyhut trägt und in Freizeit und Beruf gerne Leute über den Haufen schießt. Ihm werden immer wieder die zwei großen Fragen der Menschheit gestellt (Wo komm ich her? Wo geh ich hin?), ohne dass er sie beantworten kann. So simpel die Fragestellung, so komplex wird sie in mittlerweile vier Staffeln in der farbentsättigten Provinz von Harlan an Gesetzeshütern und Gesetzlosen ausprobiert. Der jeweilige Antagonist weiß genau so wenig wie Raylan, wo er hingehört und das macht die Serie so tragikomisch und lebendig.
Beinahe lebendiger als die Hauptfigur ist der beste Feind und schlimmste Freund des Marshalls. Walton Goggins spielt Raylans Jugendfreund Boyd Crowder mit einer Inbrunst, als hätte es Shane Vendrell in “The Shield” nie gegeben. Kaum zu glauben, dass Crowder in den vier Staffeln bereits als Nazi, Priester, Drogendealer, liebender Ehemann, Killer und Streiter für die Gerechtigkeit im Einsatz war, aber wie sagt man im Englischen so schön: »He can pull it off«. Boyd weiß noch nicht so genau, was es bedeutet, ein Crowder zu sein, die kriminelle Karriereleiter darf aber zumindest so lange bestiegen werden, bis man sich mit genug Geld und Liebe zur Ruhe setzen kann. Interessant, dass es Antiheld Boyd mehr als Raylan um die Liebe geht. Raylans durch und durch unmoralischer Vater und sein “broken home” lassen ihn den genau gegenteiligen Berufsweg zum Polizisten einschlagen und es ist schwer zu sagen, ob er damit wirklich besser als seine alte Nemesis fährt. Die rhetorischen Showdowns zwischen Raylan und Boyd haben übrigens nicht nur mehr Durchschlagskraft als ihre Prügeleien, sie richten auch den größeren emotionalen Schaden an. Gut, dass Raylan in Chief Art Mullen (köstlich: Nick Searcy) noch eine zweite, deutlich zivilere Vaterfigur im Repertoire hat.
Es sind jetzt vier Staffeln vergangen, seit ich Raylan Givens kenne. Eine Weile habe ich ihn mit Argusaugen beobachtet. Ist er ein Platzhalter für die typisch amerikanische Vergeltungssucht? Ist sein Marshall nur eine Reprise von Sheriff Seth Bullock? Ist der Hillbilly-Himmel von Harlan County nur Klischee und Kulisse fürs Erschießen von Leuten? Oder entsteht da still und heimlich eine große Figur des amerikanischen Polizeifilms in einem geografischen Biotop, das in seiner skurrilen Glaubwürdigkeit dem New Jersey aus den Sopranos ähnelt? Nach vier Staffeln glaube ich die Antwort zu kennen. Und wenn Raylan Givens dann irgendwann mal seinen Hut an den Nagel hängt und die Serie ihr hohes Niveau bis zum Schluss hat halten können, kaufe ich mir einen weißen Stetson und laufe auch im Alltag damit herum.
Justified Szenenfoto © Sony Pictures Home Entertainment | Foto von Berni Mayer © privat
Über Berni Mayer:
- Wurde 1974 in Niederbayern geboren
- Studierte Englisch und Deutsch in Regensburg
- Leitete in München die Online-Redaktion beim Musiksender MTV
- Arbeitete in Berlin als Promoter für ein Plattenlabel
- Kehrte wieder zu MTV zurück und leitete die Onlineredaktion für MTV und VIVA
- Erschuf zusammen mit Markus Kavka die Webshow “Kavka vs. The Web” und war als Autor, Regisseur
und Produzent tätig - Fungierte als Redakteur und Ideengeber für Kavkas ersten Roman “Rottenegg”
- Veröffentlichte Anfang 2012 via Heyne Verlag seinen ersten eigenen Roman “Mandels Büro” (Rezension auf booknerds.de)
- Veröffentlichte Ende 2012 via Heyne Hardcore Verlag den zweiten “Mandel”-Teil “Black Mandel”, der ebenfalls wieder Krimi, Satire und Musik vereint (Rezension auf booknerds.de)
- Arbeitet zur Zeit an einem dritten “Mandel”-Roman
- Ist Gitarrist und Sänger der Band “The Gebruder Grim”
- Bloggt eifrig auf burnster.de über Musik, seine Bücher,
seine Lesungen, Fußball und vieles mehr. - Liebt die Fernsehserie “Justified”
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