Die Nase von der Schule nach zehn Jahren voll, eine abgebrochene Ausbildung, Jobs hier und dort, Mittlerer Dienst bei der Post, Radio, Fernsehen, Videoproduktion – der 1970 geborene Nürnberger, der heute als freiberuflicher Texter, Autor und Redakteur sein Geld verdient, ließ in der Vergangenheit nichts unversucht, um zu Hause für einen gefüllten Kühlschrank und zufriedene Vermieter zu sorgen, und so ergab es sich, dass der Franke rund dreieinhalb Jahre Paketzusteller »bei den Blauen« war. Eine Zeit, aus der es einiges zu erzählen gibt.
Man kann nun schnell zu dem Schluss kommen, hier versuche sich jemand als “Günter Wallraff reloaded” zu profilieren, doch nach den ersten Kapiteln wird schnell klar, dass Schossigs Intention eine andere ist. Ihm geht es nämlich weniger darum, irgendwelche Enthüllungen zu präsentieren und den Zustellunternehmen und ihren Subunternehmern an den Karren zu fahren, denn die Machenschaften, Lohnbedingungen und Zustände sind mittlerweile ein mehr als offenes Geheimnis – eher gewährt er dem Leser in Tagebuchform einen Einblick in den doch sehr nervenaufreibenden Berufsalltag eines Paketboten, und zwar mit all seinen schönen und nicht so schönen Eigenschaften.
Hierbei geht er selbstverständlich auch auf die internen Strukturen und die sehr behelfsmäßige Organisation ein – das beginnt bei den technisch nicht einwandfrei funktionierenden Bandanlagen im Depot und erstreckt sich über die Planung der Touren und die teils desaströsen Sicherheitsbedingungen bis hin zu den chaotischen Bedingungen, die einen Zusteller unterwegs gerne unverhofft ereilen. Hinzu kommt, dass es dem Zustellunternehmen offenbar äußerst gleichgültig ist, ob sich ihre Fahrer trotz Forderungen (zum Beispiel dauernde Erreichbarkeit via eigenem Handy, selbst während der Fahrt) an die allgemeinen Verkehrsregeln halten oder nicht. Auch wird über die unmögliche Lage mancher Wohnungen und Häuser berichtet. Ebenso wird die Vielfalt der Kunden in all ihren positiven und negativen Facetten beleuchtet. Was am Ende zählt, ist: Das Paket muss zum Kunden. Effizienz ist das A und O, und dies geht nicht selten auf Kosten der allgemeinen Sicherheit und des Wohles der Mitarbeiter.
Wie aus den Erzählungen hervorgeht, versuchte Holger Schossig bei seiner Arbeit, sich das Ganze immer wieder durch Humor, gerne auch mit Ironie und Sarkasmus, erträglich zu gestalten, doch gerade die auflockernden Versuche seinerseits stießen bei unzähligen ironieresistenten Paketempfängern ein ums andere Mal auf Unverständnis. Immer wieder schimmert in seinen Ausführungen beim Rückblick auf die Arbeit der Frust hindurch, der sich über manche ewig langen Tage in Kombination mit so mancher Panne, Unmöglichkeit und ab und an auch Panikanflügen akkumuliert hat.
Über die technischen Probleme, die immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen auftauchten, ebenso über die oftmals extremen Wetterbedingungen konnte der Autor immer wieder hinweg sehen, doch man bekommt – entweder direkt oder unterschwellig – deutlich vermittelt, sie sehr sich Schossig über seine Mitmenschen geärgert hat oder zumindest heftigst den Kopf über sie schütteln musste. Hierbei bekommen sowohl Kollegen als auch Kunden ihr Fett weg, wobei es primär die Borniertheit und Dummheit mancher war, die ihm noch heute mit lautem Lokomotivenpfeifen Dampf aus den Ohren zischen ließ.
Dabei macht er allerdings nicht den Fehler, sich selbst über alle zu stellen, denn er weiß sehr wohl um seine eigenen Fehler und Macken und macht deutlich, dass auch er manchmal einen schlechten, gelegentlich auch sehr schlechten Tag hatte und hin und wieder den Paketempfängern gegenüber nicht mehr den feinsten Ton anschlug. Auch hatte er sich hier und dort gewünscht, er hätte für manche seiner Kunden mehr Zeit gehabt, um sich mit ihnen mal etwas ausgiebiger zu unterhalten – wobei ihm der Zeit- und Auslieferungsdruck jedoch stets einen Strich durch die Rechnung machten. All diese Kleinigkeiten sind in der Summe das, was diesem 160-Seiter viel Menschelei verleiht und sämtliche Bedenken, hier hätten wir es mit einem reißerischen Enthüllungsbuch zu tun, mit einem Mal pulverisiert.
Sprachlich bedient sich der Autor recht einfachen Vokabulars und recht direkten Formulierungen, sodass sich das ganze Buch binnen weniger Stunden in einem Rutsch lesen lässt. Oftmals hat man anhand des Hangs zur Umgangssprache beinahe das Gefühl, der Autor erzähle dem Leser seine Erlebnisse bei einem Bierchen – und das passt zum Inhalt, denn sprachliche Verklausulierungen und intellektualisierte Formulierungen wären hier völlig fehl am Platz gewesen.
Letztendlich zeigt Holger Schossig mit dieser Lektüre, dass auch Paketzusteller nur Menschen und keine Maschinen sind – und dass man, nur weil man selbst immer wieder vom Pech verfolgt ist, von ziemlich vielen unfreundlichen oder unfähigen Idioten Pakete zugestellt zu bekommen, noch lange nicht alle Zusteller in dieselbe Schublade stecken kann.
“Sie kommen heute aber spät!” ist Kurzweil zum Mitschmunzeln und Mitaufregen und somit ein nettes Nice-to-have.
Cover © Holger Schossig
- Autor: Holger Schossig
- Titel: “Sie kommen heute aber spät!” – 1280 Tage Paketzusteller-Wahnsinn³
- Verlag: Eigenverlag
- Erschienen: 2013
- Einband: Paperback
- Seiten: 160
- ISBN: 978-3-8442-5565-2
- Sonstige Informationen:
Mehr Informationen zum Buch @ Holger Schossig Homepage
Wertung: 11/15 dpt
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