Der Roman “Pulsarnacht” ist ein Experiment. Sein Gegenstand ist das Verstehen. Die Science-Fiction bildet dabei nicht nur die Kulisse – sie ist die Technik dieses Versuchsaufbaus. Bis zum ausgeschriebenen Widersinn schraubt Autor Dietmar Dath an Raum und Zeit. Physikalische und narrative Konzepte werden zu einer Folie kalandriert, darauf erzählt; es wird poetisch, logisch, märchenhaft, menschlich – der Dath hat seine eigene, unangepasste, manchmal unbequeme Art zu schreiben – und Motive verschlingen sich wie Messkurven ineinander. In diesem fröhlichen Oszilloskop wird Verstehen gespielt. Und nebenbei bekommt der geduldige Leser auch noch eine sehr gute SciFi-Geschichte erzählt.
Der Weltentwurf des Romans ist in jeder Hinsicht komplex. Häufige Blicke in das angehängte Glossar sind notwendig, um die unzähligen Prinzipien und Techniken dieser Welt, die raumzeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Das Universum ist bereits soweit erschlossen, dass sowohl die eigene Biographie als auch die politischen Instanzen durch zeitverzerrende, relativitätstheoretische Effekte beeinflusst werden. Anstelle “geographischer” Grenzen umzäunt man Gebiete der Raumzeit, während sich die Menschheit in den VL, den Vereinigten Linien, organisiert hat; sie eint ein gemeinsamer Gesetzeskatalog, der die Reglementierung von Fortpflanzung, Lebensdauer und eine Hierarchisierung der Abstammung beinhaltet. Durch einen Quantencomputer im Gehirn, den Tlalok, ist man prinzipiell unsterblich. Der Körper ist beliebig. Geistige und physische Fähigkeiten scheinen für alle beinahe unbeschränkt.
Macht und Einfluss werden aber trotz dieser Gleichheit exklusiv gehalten. Zu Beginn des Romans führt Präsidentin Shavali Castanon die VL an. Die Gene der Castanon-Linie sind Machtgaranten. Lebenszeit (bis hin zur legitimierten Unsterblichkeit) kann akkumuliert werden, indem man der Präsidentin und ihren Gesetzen dient. Doch der Mythos der Pulsarnacht scheint Shavali und ihr Machtzentrum auf Yasaka erheblich zu stören.
Wie auch die echsenähnliche Spezies der Custai lässt Castanon Nachforschungen bezüglich dieses kosmischen Ereignisses anstellen, von dem die Spezies der Dim berichten. Diese lebt in einer abergläubischen Gesellschaft, geprägt von alten Geschichten und Ritualen. Gleichzeitig besitzen sie tiefgreifende technische Kenntnisse und Ingenieursfähigkeiten. Alle Dim stehen bei den Custai in einer Art Sklavendienst. Man glaubt, dass es sich bei ihnen um Maschinen handelt, deren überzeichnete Menschenähnlichkeit ein provokanter Scherz ihrer Erbauer sei. Abschätzig werden sie von den Menschen nur die “Trüben” genannt.
Der Mythos besagt, dass alle Pulsare im gesamten Universum gleichzeitig aufhören werden, elektromagnetische Wellen auszusenden. Aufgrund relativitätstheoretischer Effekte kann es jedoch kein Ereignis geben, das von verschiedenen Beobachterpositionen aus als gleichzeitig beobachtet werden kann. Damit stellt die Pulsarnacht Verstehen und Selbstverständnis des gesamten Universums auf die Probe. Niemand weiß, welche Auswirkung die kosmische Funkstille haben könnte. Unsicherheit und Ungewissheit treiben die Nachforschungen an.
Der Form nach greifbar wie ein Liter Wasser im freien Fall erzählt Dietmar Dath die Geschichten seiner ungewöhnlichen Figuren. Es gibt keine flachen Charaktere. Ihnen allen ist die Fähigkeit gegeben, Rhetorik und Absicht ihres jeweiligen Gesprächspartners zu verstehen. Sie können sich selbst verstehen und beobachten. Sie sind dem trägen, menschlichen, nicht-optimierten Leserhirn in ihrer eigenen Welt vielleicht sogar einen Schritt voraus.
Genau wie seine Figuren von der Architektur bis zur Mimik alles verstehen und deuten können, nötigt Dath den Leser gleichermaßen dazu, die rhetorische Wirkung der Erzählung zu hinterfragen. Seine eigenwillige Sprache sperrt sich gegen das Abtauchen in die Geschichte. Und am Ende geht man einen vollen Verstehenszyklus mit, wenn einige Charaktere die Erzählung in eigenen Gleichnissen darstellen. Der Gipfel dieser Selbstreflexionen und Illusionsbrechungen wird aber erreicht, wenn sich der Autor am Schluss selbst erklärt.
“Pulsarnacht” ist eine Zäsur zwischen Rhetorik und Realität. Die abfallende Flanke eines konstruktivistischen Potenzials. Pause, Stille, Leerstelle. Wie wollen wir verstehen?
Cover © Heyne Verlag
- Autor: Dietmar Dath
- Titel: Pulsarnacht
- Verlag: Heyne
- Erschienen: 12/2012
- Einband: Paperback mit Klappenbroschur
- Seiten: 432
- ISBN: 978-3-453-31406-1
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit aller Formate
Wertung: 13/15 dpt
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