Tess Gerritsen – Abendruh (Hörbuch, gelesen von Mechthild Großmann)


Tess Gerritsen - Abendruh (Hörbuch)Durch die TNT-Fernsehserie “Rizzoli & Isles” dürfte die US-amerikanische, 1953 geborene Autorin Tess Gerritsen noch einmal einen beachtlichen Popularitätsschub erlebt haben, ist sie es doch, die die literarische Vorlage zu der hierzulande auf VOX ausgestrahlten Krimiserie mit dem ungleichen Duo, nämlich der etwas eigenartigen, hochintelligenten Pathologin Maura Isles und der doch eher burschikos agierenden, emotional sehr wechselhaften FBI-Agentin Jane Rizzoli, liefert. Von den insgesamt über zwanzig Thrillern, die Gerritsen seit ihrem 1987er Debüt “Der Anruf kam nach Mitternacht” veröffentlicht hat, handelt es sich bei “Abendruh” um den zehnten aus der Maura-Isles-und-Jane-Rizzoli-Reihe.

Abendruh ist ein isoliertes Internat irgendwo in der Pampa im US-Bundesstaat Maine, in welchem Jugendliche aufgefangen und resozialisiert werden sollen. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um herkömmliche Problemkids mit den üblichen Marotten, sondern um solche, die eine grausame Gemeinsamkeit miteinander verbindet: All diese jungen Menschen haben brutale Familientragödien erlebt und zudem als einzige überlebt, doch auch die Pflegefamilien wurden ermordet. So erging es beispielsweise den Teenagern Will Jablonski, Claire Wood und Teddy Clock.

Doch obwohl diese Anstalt eigentlich absolut sicher sein und den Heranwachsenden Geborgenheit bieten müsste, ereignen sich furchteinflößende Dinge, sodass die Schüler nicht einmal hier ihren Frieden finden. Im Gegenteil: Sie müssen wieder um ihr Leben fürchten. In diesem Internat geht das Lehr- und Erziehungspersonal jedoch teilweise mit eigenartigen und unkonventionellen Methoden vor. Maura Isles ist aufgrund einer persönlichen Verbindung zu einem der Jugendlichen ebenfalls dort anwesend, denn mit dem sechzehnjährigen Julian hatte sie vor wenigen Jahren bereits gemeinsam um ihr Leben bangen müssen – ihre Beobachtungen im Internat lassen sie bezüglich der Sicherheit zunehmend skeptischer werden. In Boston jagt Jane Rizzoli derweil mit ihrem Team den vermeintlich involvierten Mörder, der jedoch selbst zu Tode kommt – für das FBI gilt fortan: “Case closed”. Doch Rizzolis Instinkt sagt ihr, dass es das noch lange nicht gewesen ist, und so kommen sowohl sie als auch Isles Stück für Stück den wahren Gräueltätern auf die Spur.

Steigt man erst nach der Serie in die geschriebene Welt der beiden ein, wird man überrascht sein, denn die Figuren, die man praktisch allesamt aus den Büchern in die Verfilmung “mitgenommen” hat, bieten, obwohl sie von der Optik her sehr gut getroffen wurden, in audiovisueller Form doch deutlich weniger Facetten und werden um einiges eindimensionaler dargestellt als es in diesem neuen Werk einmal mehr der Fall ist, denn den Charakteren verleiht Gerritsen doch um einiges mehr Tiefe, gewährt dem Leser deutlich mehr Introspektiven in deren Köpfe und verwebt ungleich mehr Texturen in klar diffizilerer, aber auch differenzierterer Form miteinander, sodass man als Außenstehender der Geschichte um einiges intensiver gefordert wird. Auch halten sich die Gemeinsamkeiten außerhalb der Hauptcharaktere manchmal doch stark in Grenzen.  Generell lässt sich mit dem Titel des vierten Albums der Progressive-Rock-Band The Tangent eigentlich so ziemlich perfekt kurz gefasst ausdrücken, wie sich Serie und Buch zueinander verhalten: “Not As Good As The Book”

Das neueste Werk vereint nämlich ungeheure Spannung, Vielschichtigkeit der Situationen und (Co-)Protagonisten, intelligente Verstrickungen und viel Gefühl höchst professionell miteinander, ohne dass man das Gefühl haben muss, die Autorin habe nach gut zwei Dutzend Büchern ihre Leidenschaft verloren und schriebe nun mechanisch und serienkompatibel. Im Gegenteil: Gerritsen gibt die Marschrichtung vor und lässt sich dabei von ihren fiktiven Figuren leiten, die in den letzten Jahren offensichtlich ein Eigenleben in ihrem Kopf entwickelt haben – denn die Charaktere wirken nie unrund, sondern stets glaubwürdig in all dem, was sie tun und wie sie denken.

In inhaltlicher Hinsicht darf man demnach begeistert und respektvoll den Hut vor der Autorin ziehen, denn ernsthafte Kritik kann man nirgendwo anbringen. Ob Sprecherin Mechthild Großmann (“Tatort”, “Nirgendwo in Afrika”) jedoch eine so gute Wahl für die Gerritsen-Romane ist, sei mal dahingestellt. Zwar ist Großmanns Art des Vortragens noch um einiges angenehmer als beispielsweise die Gerritsen-Kost, welche Michael Hansonis extrem einschläfernd eingelesen hatte, doch das Hörerlebnis ist dennoch grenzwertig. Das liegt nicht einmal an der eigenwilligen, brummigen, rauchigen Spongebob-meets-Gollum-meets-Subwoofer-Stimme der Schauspielerin, denn die passt nach einer kurzen Gewöhnungsphase recht gut zum Erzählten, sondern eher an der unfassbar niedrigen Lesegeschwindigkeit.

Die sorgt oftmals dafür, dass man gedanklich sehr schnell nicht mehr beim Geschehen ist, sondern damit beginnt, die Regentropfen am Fenster oder die Raufaserknubbel der Tapete zu zählen – ebenso sind die Pausen zwischen manchen Absätzen verstörend lang, sodass man gelegentlich kurz prüfend in Richtung Display des Abspielgeräts blicken muss, ob die CD etwa schon zu Ende ist. Das sorgt letztendlich dafür, dass dieses Hörbuch stellenweise zu einer wahren Geduldsprobe wird. Da hätte etwas mehr Pep und Tempo sicherlich gut getan – und man hätte für die Lesung eventuell sogar vieles gar nicht erst kürzen müssen. Auch stört manchmal die etwas zu geschauspielert wirkende Art, mit der Mechthild Großmann einzelne Figuren sprechen lässt, denn die zerfrisst die “geschriebene Glaubwürdigkeit” derselben gelegentlich entscheidend.

Dass dennoch zehn von fünfzehn Dioptrien für dieses Hörbuch gezückt werden, liegt demnach hauptsächlich daran, dass der Thriller selbst von höchster Güteklasse ist. Eine dynamischere, lebhaftere Stimme wäre für die Zukunft demnach äußerst wünschenswert.

Cover © Random House Audio

Wertung: 10/15 dpt

 


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