Ostberlin. Im September 1976 zieht die Familie des vierzehnjährigen Markus Bäcker vom Prenzlauer Berg an den Stadtrand, nahe des Bahndamms, da seine Eltern dort in einem Chemiewerk neue Arbeit gefunden haben. Markus ist alles andere als begeistert davon und fühlt sich anfangs weder wohl noch zuhause. Das liegt einerseits an seinem Umfeld, andererseits ist das Wohnen an den Bahngleisen unbequem laut, und zu allem Überfluss nimmt einem der widerwärtige Gestank, der aus den Fabrikschloten steigt, den Atem.
Eine Verbindung oder gar Beziehung zu dieser Gegend mag sich nicht einstellen, doch als er eines Tages einmal mehr in seiner neuen Heimat auf dem Schul- und Nachhauseweg unterwegs ist, begegnet er dem siebzehnjährigen Reiner Nilowsky. Der ist Sohn des Besitzers des Bahndamm-Ecks, einer Kneipe, die sich im selben Haus wie die Wohnung der Bäckers befindet. Dieser Nilowsky drückt sich umständlich und mit vielen Wiederholungen aus (»Er will, dass du wieder kommst. Das will er. Dass du wieder dabei bist, will er.«), verfolgt merkwürdige Denkweisen und scheint oftmals irgendwo in einem gedanklichen Paralleluniversum zu leben. Zum Zeitvertreib legt er gerne auch Groschen auf die Bahngleise und sammelt die vom Zug geplätteten Münzen anschließend wieder auf. Seine Schätze. Einer der Gründe, weshalb der junge Mann so eigenartig ist, wie er ist, mag unter anderem sein, dass Nilowsky von seinem ständig betrunkenen, alleinerziehenden Vater regelmäßig verprügelt wird…
Immer wieder – die beiden verabreden sich eher selten, sondern begegnen sich häufig einfach so – nimmt Nilowsky Markus mit zu sonderbaren Aktionen. Markus sieht sich permanent zwischen einem großen Gefühl der Skepsis gegen und völliger Faszination für Reiner hin- und hergerissen, gerade weil der schlaksige Säufersprössling ihn erst wie einen guten Freund, dann jedoch wieder wie ein Stück Dreck behandelt. Doch letztendlich entwickelt sich zwischen den beiden eine gleichermaßen wundersame wie intensive Freundschaft, deren Sprunghaftigkeit treibende Kraft ist.
Gelegentlich kommt Reiner mit seiner Freundin Carola, die er als “seine Braut” verstanden haben möchte, im Schlepptau daher – ein lebhaftes, unstetes Mädchen, das etwa in seinem Alter ist, aber partout für immer dreizehn bleiben will. Doch Carola weckt auch Markus’ Faszination, und es dauert nicht lang, bis der Zugezogene sich in den sommersprossigen Rotschopf verliebt und auch körperliches Begehren für sie verspürt.
Verwirrt von Nilowsky, verwirrt von Carola, verwirrt von seinen eigenen Gefühlen und seiner Pubertät, befindet sich Markus permanent im Zwiespalt zwischen Freundschaft und Liebe, denn eigentlich hätte er Carola zu gerne für sich (zumal sie ihm immer häufig Geheimnisse anvertraut und ihn gerne auch alleine trifft), hat aber Angst, diesen komischen Kerl, der doch irgendwie sein bester Freund geworden ist, zu verletzen oder gar zu verlieren – zum einen, weil er ihm etwas bedeutet, zum anderen aber auch, weil er eine sonderbare Form von Furcht vor ihm verspürt.
Es entstehen in unregelmäßigen Abständen teils lange Pausen, und immer, wenn Markus nicht mehr so recht mit einem der beiden rechnet, tauchen sie mal einzeln, mal gemeinsam auf. Das Leben aller Protagonisten geht weiter, das Leben anderer endet bald, und es ist kaum abzusehen, wann sich die Wege der drei wieder kreuzen und was dann geschieht. Was wird aus Carola und Nilowsky? Oder aus Nilowsky und Markus? Oder aus Markus und Carola? Und aus jedem einzelnen?
Der Leser verfolgt dieses komplizierte trianguläre, fransige Miteinander vom frühherbstlichen 1976 bis kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands und sitzt nach dem Zuklappen der Buchdeckel erst einmal mit Fragezeichen über dem mit dem Zeigefinger grüblerisch gekratzten Kopf da. Denn: Man weiß nach der Lektüre gar nicht so recht, welche Person in diesem Roman nun die tragende Rolle gespielt haben mag. Letztendlich ist “Nilowsky” ein Buch, das vor Intensität nur strotzt und aufzeigt, wie sehr äußere Umstände diverse Menschen prägen und welche Auswirkungen persönliche Veränderungen und Einschnitte auf die Zukunft haben können. Inwiefern die Bahngleise hier symbolisch für die zahlreichen Möglichkeiten der Verzweigungen stehen mögen, darüber kann man bestenfalls spekulieren.
Individualität nimmt in “Nilowsky” anhand der sehr präzise skizzierten Charaktere mit all ihren Eigenheiten und Abgründen sowie Markus’ eigenen und den oftmals nur schwer nachvollziehbaren Gedankengängen Carolas und Reiners einen enorm großen Platz ein. Doch auch zahlreiche andere Faktoren – Anflüge von Erotik, Mutproben, absonderliche sexuelle Anwandlungen, Verzweiflung, versteckter Humor, Lügen der Wahrheit wegen, Vertrauensproben, Hass, Liebe, Hassliebe, das Finden seines eigenen Platzes in diesem riesigen und gleichermaßen wichtigen wie unbedeutenden Kosmos namens Leben – sorgen für unkontrollierte Herz- und Hirnbeben, die den Lesenden wiederholt durchschütteln. Dessen Emotionen purzeln umher wie kantige Bauklötze, die zum liegen kommen und sich eine Nische suchen und vermutlich Ruhe einkehrt – bis die nächste Unruhe wieder Durcheinander in das bestehende, in Ordnung scheinende Chaos bringt.
“Nilowsky” hinterfragt auf eine verstörende Art und Weise den Wert von Freundschaft und den Wert der Liebe, den Sinn im Festhalten an dem einen und/oder anderen – in organischer und höllisch vereinnahmender Form wird aufgezeigt, wie sehr das Leben an sich einfach nur eine Abfolge chemischer Prozesse sein kann, in welchen schlichtweg geschieht, was geschieht, aber auch, wie sehr das Leben und die Lebenden ihr Spiel miteinander spielen. Ihren Kampf miteinander austragen.
Das Buch “Nilowsky” verkörpert im Grunde so ein wenig die Figur Nilowsky selbst: Ungehobelt, eigen, man weiß nicht, was man davon halten soll. Man denkt, begriffen zu haben und hat doch einen feuchten Dreck kapiert. Man wird eingesogen, eingeweiht und glaubt, man gehört dazu – und wird kurz darauf wieder ausgespuckt, abgewiesen und steht alleine da. “Nilowsky” ist der undurchsichtige Freund, bei dem Einfachheit und Undurchdringlichkeit stets miteinander kollidieren. Man würde ihn am liebsten in die Ecke pfeffern, würde allerdings damit alles zerstören – weil man nicht von ihm loskommt.
“Nilowsky” ist letzten Endes ein Werk, das abschreckend und faszinierend zugleich ist. Eines, das den Leser zu einer gespaltenen Persönlichkeit werden lässt. Eines, das beschäftigt. Und eines, dessen Nachhaltigkeit nicht zu unterschätzen ist.
Cover © Klett-Cotta
- Autor: Torsten Schulz
- Titel: Nilowsky
- Verlag: Klett-Cotta
- Erschienen: 02/2013
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 285
- ISBN: 978-3-608-93971-2
- Sonstige Informationen:
Autorenwebsite
Bezugsmöglichkeit
Auch als eBook erhältlich
Wertung: 13/15 dpt
Prima Rezension! Ich habe das Buch gelesen und war immer hin- und hergerissen.