“Das Seil” bindet sich ums Gehirn und zerrt daran wie ein tollwütiger Traktor. Was soll diese Geschichte, die aus dem Siepen in klassischer Schlichtheit erzählt? Ein einfaches Seil bietet genug Zündstoff für einen Plot ohne jede Effekthascherei, der Stephen King (The Dark Tower) und Damon Lindelof (Lost) zur Vorlage hätte dienen können. Der Stil des Autors liegt dabei genau am anderen Ende der Hollywood-Skala, irgendwo bei den lebensversöhnenden Beobachtungen Adalbert Stifters und den glitschigen Allegorien Hemingways. Diese sonderbare Mischung funktioniert gut, weil der Autor sich als kompetenter Menschenkenner und scharfer Beobachter entpuppt. In abendfüllenden einhundertachtzig Seiten erzählt aus dem Siepen die Geschichte eines Bauerndorfes, das weit abgeschieden, fernab der Moderne, am Rand eines großen Waldes liegt. Die Welt der Bewohner ist eine kleine, geregelte Welt. Man wird im Dorf geboren und stirbt auch dort. Das Leben verläuft im Einklang mit der Natur und den Arbeiten, die diese erfordert. Zwei Mal im Jahr verlassen sämtliche Männer die vertraute Umgebung, um auf dem nächsten Marktplatz das wenige, überschüssige Getreide anzubieten. Anschließend kehren sie in ihre Häuser zu ihren Frauen und Kindern zurück und fühlen sich “missbraucht” (sic!). Ein wenig Bildung wird dem Nachwuchs nur durch den Wanderlehrer Rauk zu Teil.
Dieser von den Bewohnern immer argwöhnisch beäugte Mann mit Klumpfuß und zwei riesigen Doggen namens Hetzer und Thor zieht von Dorf zu Dorf, um zu unterrichten.Mit dieser monotonen aber geschätzen Lebensweise ist es jedoch vorbei, als ein Dorfbewohner am Waldrand ein Seil entdeckt. Eigentlich müssen sich die Männer um die anstehende Ernte kümmern. Die Ähren hängen schon tief und ein starker Regen könnte die Früchte der gemeinsamen Arbeit jeden Tag zunichte machen. Doch dieses Seil, qualitativ gut, bestimmt nicht aus ihrem Dorf, lässt den Bewohnern keine Ruhe. Für sie ist dieses Ereignis so weit ab vom Alltag, dass ein erster Expeditionstrupp losgeschickt werden muss, um das Rätsel umgehend zu klären. Als man feststellt, dass das Seil auch nach einem zweistündigen Marsch noch kein Ende, kein Ziel, keine Bestimmung aufweisen kann, befeuert diese beinahe magische Außergewöhnlichkeit die Neugier der Männer umso mehr, vor allem die des Lehrers Rauk. In einem Gewaltmarsch am Seil entlang bringen die Männer sich, das Dorf und auch das gemeinsame Einkommen, die Ernte, in Gefahr.
Einerseits liest sich diese klassische Erzählung wie ein literarisch konstruiertes Sozialexperiment. Wie weit würden Sie für eine Antwort gehen und ab welchem Einsatz wäre eben diese für Sie keinen Pfennig mehr wert? Fans uns Freunde von Fernsehserien kennen diese Thematik zu genüge. Vielleicht gibt aus dem Siepen hier ja einen medienkritischen Kommentar zu den ewigen Enden serieller Erzählungen und Fortsetzungsgeschichten ab. Andererseits könnte es sich bei dem “Seil” auch schlicht um diese Rätselrate-Symbol-Literatur handeln, mit der die Deutsch-LKs die Lehrpläne erfüllen. X stünde in diesem Fall für Y, was beweisen würde, dass man am besten zu Hause bleibt und bitteschön niemals irgendetwas nachgeht, was einen neugierig macht. Das kann aber niemandes Ernst sein. Der Traktor bäumt sich auf.
Cover © dtv
- Autor: Stefan aus dem Siepen
- Titel: Das Seil
- Verlag: dtv
- Erschienen: 06/2012
- Einband: Paperback
- Seiten: 180
- ISBN: 978-3-423-24920-1
- Sonstige Informationen:
Bezugsmöglichkeit aller Formate
Wertung: keine
Mich hat die Suche nach dem Ende dieses blöden Seils jedenfalls überaus in seinen Bann gezogen und fasziniert. Ein sehr ungewöhnliches Buch, über das man sich viele Gedanken machen kann.