Es ist äußerst verstörend, dieses Buch nach der Lektüre in den meisten Buchhandlungen im Bereich “Unterhaltung” wiederzufinden, denn diese Kategorisierung in Verbindung mit dem comichaften Cover lässt den Unkundigen sehr schnell assoziieren, hier handele es sich um Comedy, die man bald im Privatfernsehen sehen werde – mit einer hohen Dosis “Opferschpresch”, versteht sich. Spätestens nach den ersten drei Kapiteln nämlich wird klar, dass das absolut nicht der Fall ist – im Gegenteil: Philipp Möllers autobiographisch durchsetztes Sachbuch ist ein bestürzender Einblick in das völlig verrottete deutsche Bildungssystem und eine Momentaufnahme der derzeitigen Vollgasfahrt in das womöglich bald nahende, soziale, emotionale und intellektuelle Nichts.
Der 1980 geborene Berliner Diplom-Pädagoge studierte Erwachsenenbildung, bis er sich dazu berufen fühlte, eine Laufbahn als Lehrer einzuschlagen. Eines Tages bekam und nutzte er die Chance, in einer Grundschule seiner Heimatstadt – dort dauert die Grundschule bis zur sechsten Klasse an – den Quereinstieg zu wagen. Doch Möller trifft nicht etwa auf ganz normale Schulklassen mit der typischen aus der Reihe tanzenden Handvoll Sonderlinge, bestehend aus Klassendeppen, Rowdys und Clowns, wie man sie als Schüler der prämillenialen Ära noch kannte, sondern auf einen multikulturellen Mischmasch überwiegend verwahrloster Kinder. Kaputte Familien, finanziell miserable Bedingungen, Gewalt, das Abstellen in Richtung moderner Medien, Gleichgültigkeit und Ablehnung sind die zweite Muttermilch, die das Innere der heranwachsenden Individuen über die Jahre vergiftet hat und sie zu den letztendlich in jederlei Hinsicht armen Gestalten werden ließ, die sie heute sind.
Verbale Umgangsformen wie “Was guckst du, du Opfer?”, “Der hat misch Hurensohn gesagt!”, “Isch bin in Ferien in Türkei gegeht!” und “Aua, er hat misch Röbelsäule geschlagen!” sind auf der Grundschule, in welcher Möller seine Unterrichtsstunden, teilweise mit Kollegen gemeinsam, abhält, der Normalfall, und “Züüüüsch!”, “ieberkrass”, “ieberkacke” und “Sch’bin Klo!” weitere, und selbst Schüler ohne Migrationshintergrund haben oftmals ernsthafte Probleme, die deutsche Sprache einigermaßen kultiviert von sich zu geben. Doch die Artikulation der jungen Menschen ist nicht das einzige Problem, mit welchem sich der Pädagoge konfrontiert sieht.
So liegt bei einigen Schülern der Aufmerksamkeitsfaktor, wenn es eine Skala von null bis zehn gäbe, im Minusbereich, und auch das Sozialverhalten der meisten ist erschreckend. Stille oder Ruhe mag in den jeweiligen Klassen kaum einkehren – Schüler zanken sich, schreien quer durch das Klassenzimmer, nehmen beim Holen ihrer Materialien keine Rücksicht aufeinander, legen sich mit ihren Lehrkräften an oder prügeln sich wegen inhaltlich absolut nichtigen Provokationen teilweise brutalst, und auch auf dem Pausenhof stößt “Herr Mülla” auf die Summe aller Probleme. Das bringt ihn weit über seine Grenzen hinaus, und es kostet ihn viel Kraft und Mühe, seine jeweiligen Klassen wenigstens halbwegs in Schach zu halten und sich Respekt zu verdienen. Er kann regelrecht froh sein, seine Verlobte Sarah, mit der er während seiner “Schulzeit” Vaterfreuden entgegensteuert, an seiner Seite zu haben, denn mit ihr teilt er viele der Ereignisse, die er morgens bis mittags erlebt.
Die Schicksale einzelner Schulkinder treiben ihm nicht selten Tränen in die Augen. Tränen der Wut, der Enttäuschung, der Fassungslosigkeit, der Hilflosigkeit und der Traurigkeit. Junge Menschen wachsen bereits als verkorkste Pflanzen auf und bekommen anhand ihres jeweiligen Umfelds überhaupt nicht die Möglichkeit geboten, sich anders zu entwickeln als sie es tun, denn in der Regel bekommen sie es genau so vorgelebt. Das bekommt Möller zum Beispiel auch zu spüren, als auf einem Schulfest, für das sich einige Kids tatsächlich enorm viel Mühe gegeben haben, um ihren Eltern tolle Aufführungen zu präsentieren, so gut wie alle Eltern ignorant und desinteressiert zeigten. Anstatt ihrem Nachwuchs Respekt entgegenzubringen, sind sie eher damit beschäftigt, sich während der Aufführungen lautstark miteinander zu unterhalten, ihre Smartphones zu bedienen und gar ohne ein Staubkorn Rücksicht drauf los zu telefonieren.
In seiner Zeit an der Schule – immerhin etwas mehr als zwei Jahre – wachsen ihm zwar einige kompetente und engagierte Kolleginnen und Kollegen ans Herz, und auch der ein oder andere unorthodox vorgehende Lehrer gewinnt den Respekt des Autoren, doch in den Reihen des Kollegiums finden sich mindestens ebenso viele Lehrkräfte, die mit ihrer Situation völlig überfordert sind und entweder mit (nicht funktionierenden) Maßnahmen versuchen, die Klasse in Schach zu halten, den Dingen einfach gleichgültig ihren Lauf lassen oder die Schüler und deren Eltern per se als Feind sehen. Ebenfalls auf dem Stundenplan: Krankschreibungen aus meist psychischen Gründen, ein reger Personaldurchlauf auch in den oberen Etagen – und nicht zu vergessen das völlig heruntergekommene Schulgebäude und dessen Einrichtung. Nicht genug damit, dass alles seine besten Tage schon lange hinter sich hatte, nein, auch Hygieneverfechter werden keine Freude empfinden.
Letztendlich sieht Möller die Wurzel allen Übels zu Recht in der Politik und der ignoranten Gesellschaft, die offenbar gleichermaßen zu bequem, zu ängstlich, zu gleichgültig oder zu borniert sind, an diesem Dilemma etwas zu ändern – und er warnt davor, dass diese tickende Zeitbombe irgendwann einmal platzen wird. Bedenkt man hierbei, dass sich Möller in Schulen befand, die eher zum “Mittelfeld der Schlimmheit” zählen, möchte man sich nicht ausmalen, wie es unter diesem Mittelfeld erst aussehen mag.
Während der ersten wenigen Kapitel von “Isch geh Schulhof” bekommt der Leser durchaus erst einmal das Gefühl, dass der Autor a) sich über seine ach so minderqualifizierten, unfähigen Kollegen stellt und b) die im Hartz IV-Bereich angesiedelte Sozialschicht und c) Kids mit Migrationshintergrund populistisch unter einen Teppich kehrt, aber diese Vermutung amortisiert sich sehr bald auf entwaffnende Weise durch die ungefilterte Schilderung seiner Erfahrungen und seine unvoreingenommenen Analysen.
“Isch geh Schulhof” ist ein schrilles Alarmsignal, ein Hilferuf, eine Motivationshilfe, es gemeinsam anzupacken und dem semikomatösen Patienten Bildungssystem etwas auf die Sprünge zu helfen oder ihn wieder so herzurichten, dass er wenigstens ein kleines bisschen besser funktioniert. Mit behutsam geplanten, durchdachten Reformen zum Beispiel. Die Emotionalität, mit der der Berliner schreibt, ist hierbei erfrischend und wunderbar ehrlich, und es bleibt zu hoffen, dass die Leser dieses Buch nicht einfach nur beiseite legen und sich über die “lustigen Sprüche” amüsieren – denn gerade das wird wohl kaum Philipp Möllers Intention gewesen sein.
Der Verfasser dieser Rezension war selbst acht Monate als (zu einhundert Prozent ungelernter, unstudierter) Pädagogisch-Technischer Assistent an einer Grundschule tätig, und wenngleich es sich hier um eine Schule in einem eher ländlichen Bereich mit einem nur sehr geringen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund handelt, konnte er den desolaten Zustand des Bildungssystems und des sozialen Miteinanders auch an diesen Ecken der Gesellschaft feststellen – zwar nicht in einem solch verheerenden Maße wie etwa in Berlin, aber in einem dennoch schockierenden.
Cover © Bastei Lübbe
- Autor: Philipp Möller
- Titel: Isch geh Schulhof
- Verlag: Bastei Lübbe
- Erschienen: 09/2012
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 366
- ISBN: 978-3-404-60696-2
Wertung: 11/15 dpt
Für mich war der Grund des Aussteigens von Herrn Müller eigentlich der, daß er nach vielen Zeitverträgen, denn der Staat will ja das Geld für die Ferienmonate sparen, keine feste unbefristete Anstellung bekommen hat. Das hat einzig und allein die Gewerkschaft verhindert !!! Aber wer wie Herr Möller auch Verantwortung für eine künftige Familie übernehmen will, braucht auch Sicherheiten. Das wäre ein regelmäßiges Einkommen als Lehrer . Vielleicht sollte die Gewerkschaft der Lehrer auch mal über ihren Anteil an der Bildungsmisere nachdenken…..