Filme wie “Matrix” oder “Inception” verwenden ein sattes Maß an Zukunftstechnik, um den Zuschauer in eine tiefere Wirklichkeit mitzunehmen. Ihre Macher stelle ich mir gerne als alte, dürre KFZ-Mechaniker vor. Sie tragen Latzhosen, aus denen ölige Lappen und Schraubenschlüssel schwappen. Sie haben ungeschnittene Haare. Ihre fransigen, grauen Schnäuzer wackeln ihnen durchs Gesicht, während sie uns die Motorhaube öffnen und unsere Blicke über die futuristische Maschinenwelt lenken.
Michael Weins’ Roman “Lazyboy” ist auf eine verbogene Weise diesen postmodernen Märchen nicht unähnlich. Die phantastische Erzählung des Hamburger Autors funktioniert jedoch im Kern vollständig anders. Ihr skurriler Humor ist ein voller Liebe zum Feind geschwungener Kriegshammer, sie hat mit Technik nichts am Hut und gibt dem Leser einen Einblick einzigartiger Art.
Schlagen wir dieses Buch auf, folgen wir der Selbstfindungsgeschichte von Lazyboy, der eigentlich Heiner Boie heißt, 35 Jahre alt ist und als Musikjournalist in Hamburg arbeitet, obwohl er seit Jahren keine Musik mehr ausstehen kann. Schlagen wir dieses Buch auf, so schauen wir in den Motorraum von Lazyboy. Er selbst leitet unsere Blicke, spricht mit uns über sich, erzählt seine Geschichte. Er reflektiert seine Handlungen nach der Prämisse »Eigentlich mache ich gerade das, was ich nicht machen sollte« und tut’s dann trotzdem.
Heiner hat zwei Probleme. Sein Leben und Türen. Türen verschlucken ihn und spucken ihn an anderer Stelle wieder aus. Morgens will er seine Küche mit geschmierten Stullen in den Händen in Richtung Wohnzimmer verlassen, landet stattdessen aber im Möbelhaus. Sein Leben lebt Heiner nahezu willen- und prinziplos. Mehrmals erklärt er, dass er Angst vor dem Erwachsenwerden hat, dass er denkt, dann sei alles vorbei. Er ist kaum in der Lage, sich auf irgendetwas einzulassen; er will, so sagt der Lazyboy von sich selbst, für nichts Verantwortung übernehmen. Und einmal erinnert sich Heiner daran, wie ihm seine Verlobte, Monika, einst die Pistole auf die Brust setzte: Entweder er würde ihr einen Heiratsantrag machen oder die Beziehung sei beendet.
Durch einen Türsprung in die Schwäbische Alb trifft Lazyboy auf die dreizehnjährige Daphne, die dem Berufsjugendlichen naiv und frühreif zugleich erscheint. Sie kann auch durch Türen reisen. Mit ihrer Hilfe gelangt Heiner in eine absurde Welt namens Beek. Ein kleiner Ort, aber eine vollständige Welt. Hier ist die Zeit außer Kraft gesetzt, die unsterblichen Bewohner sind seit einer Ewigkeit isoliert und wollen auf die andere Seite von Beek. Die Welt ist durch eine Mauer in zwei Hälften geteilt, die von “Einöde” eingeschlossen sind. Für Beeker beider Seiten sind dies unüberwindbare Hindernisse. In dieser Mauer befindet sich jedoch eine Tür, und damit ergibt Heiners Anwesenheit hier durchaus Sinn. Es gibt auch eine Prophezeiung in Beek: Sie verspricht einen Auserwählten, den Mittler.
Zunächst kümmert sich Heiner mit seinem typischen 1/8-Willen und ironischer Distanz um die Angelegenheiten. Als jedoch eine Katastrophe in der wirklichen Welt eintritt, erscheint Beek für den Lazyboy als die Lösung all seiner Probleme und wird zum Prüfstein seiner Selbstfindung.
Und wie erzählt Lazyboy/Weins uns das? Die Geschichte ist zu jedem Zeitpunkt verständlich. Die Sprache bleibt durchgehend präzise, die Formulierungen immer auf den Punkt gebracht; hier ist kein Gramm zu viel Ästhetik, aber genau so viel, dass man ganze Seiten auf Mauern schreiben möchte. Dann explodiert der Text. Lazyboy explodiert ebenso und mausert sich an einigen Stellen zu einem wahren Dichter im Überschwang. Wunderschön, ehrlich, ironiefrei. Wer dabei peinlich berührt wird, soll auf der Stelle zu Staub zerfallen.
Am Ende ist es keine Science-Fiction, die uns in die Wirklichkeit des Lazyboy’schen Lebens eingeführt hat. Es ist die Idee des Geschichtenerzählens selbst. Matrix und Co. suggerieren, dass mehr Technik den Menschen tiefer in die Realität eindringen lässt. Michael Weins Erzählung zeigt meiner Meinung nach, dass in unserem Hirn eine Technik existiert – dort schon eine gefühlte Ewigkeit -, und Wirklichkeit und Leben und uns verändern kann, zum Guten und zum Schlechten: Das Erzählen.
Cover © mairisch Verlag
- Autor: Michael Weins
- Titel: Lazyboy
- Verlag: mairisch
- Erschienen: 08/2011
- Einband: Hardcover
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3-938539-19-4
Wertung: 15/15 dpt
Ich habe gerade einen Abschnitt in Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften” gefunden, der wunderbar zu Weins’ Erzählung passt:
“Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.”