Einst war die Pepys Road im Süden Londons eine Straße, in welcher Häuser für Arbeiter und sozial Schwache errichtet wurden. Die Witwe Petunia Howe, die damals wie heute dort lebt, erinnert sich noch sehr gut an diese Zeit. Doch während der Jahrzehnte hat sich die Pepys Road durch enorme Wertsteigerungen zu einer Straße entwickelt, in welcher nur noch die Reichsten der Reichen wohnen – Menschen, die in den Reichtum gestolpert sind oder es noch nie anders gewohnt waren.
Der aus Senegal stammende Freddy Kamo war beispielsweise in seinem armen Heimatland einer von zahlreichen Kickern, bis er mit seinem Vater in eines dieser unfassbar teuren Häuser zog – denn er gilt nun als die neue internationale Fußballhoffnung. Der Banker Roger Yount hingegen war schon immer einer der erfolgreichsten seines Fachs, doch dieses Jahr wird es wohl nichts mit der einen Million Pfund Jahresprämie – besonders seine Ehefrau Arabella, die shoppt, sauniert und diniert wie andere atmen, ist völlig entsetzt darüber, und so hängt der Haussegen der Younts entsprechend schnell schief. Provokationskünstler Smitty ist ein weiterer Bewohner dieser Gegend und macht seinen Mitmenschen mit eigenwilligen Kunstwerken das Leben schwer – doch auch als Mensch gehört er einer eher grenzwertigen Spezies an.
Der den Frauen nicht abgeneigte und auch selbst bei den Frauen geschätzte, bodenständige Pole und WG-Bewohner Zbigniew verdient sich in der Pepys Road mit handwerklicher Arbeit seinen Lebensunterhalt, und bei den Younts übernehmen wechselnde Haushälterinnen sowohl den Haushalt als auch die Erziehung der beiden Kinder. Eines Tages erhalten die Hausbesitzer allesamt Postkarten mit der Aufschrift: “Wir wollen was ihr habt.”, und das beunruhigt die Bewohner doch sehr, denn nach einiger Zeit spitzt sich die Lage noch zu – bald sind es nicht nur Postkarten, sondern auch Videos, Graffiti, ein Blog, und alles eskaliert mehr und mehr. Eine pakistanische Familie, die einen Kiosk in der Nähe betreibt, gerät unter Terrorverdacht, doch auch die nigerianische Politesse Quentina, die ohne Arbeitserlaubnis Knöllchen bei den Reichen verteilt, ist vielen nicht allzu koscher. Wer könnte hinter der furchteinflößenden Aktion stecken?
Der in Hamburg geborene, im Fernen Osten aufgewachsene und später im englischen Journalismus sehr umtriebige und vielseitig aktive Autor hat mit diesem dicken Wälzer – sechshundertzweiundachtzig Seiten in über einhundert Kapiteln – allerdings nicht etwa einen profanen Kriminalroman verfasst, sondern macht gemeinsam mit seinem Leser einen Streifzug durch die unterschiedlichen sozialen Schichten der Metropole und dokumentiert mit viel Humor, Biss und Gefühl, welchen Wert Geld haben kann, sollte, nicht haben sollte, und wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen. Hierbei arbeitet er auch mit urbritischem Spott, Ironie und Zynismus und zeigt auf, wie sehr manche Menschen den Boden unter den Füßen und den Sinn für Realität verloren haben, andere wiederum mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden stehen. Gerade bei letzterer Personengruppe, aber auch bei jenen, die nicht so recht den Gong gehört haben, zeigt Lanchester jedoch auch viel Mitgefühl mit den einzelnen Charakteren.
Fast einem Zoo gleich lässt der Schriftsteller den Zuschauer am Rand der jeweiligen Gehege und Käfige stehen und ihn zuschauen, wie die einzelnen Protagonisten ihre Wege gehen, und im Gegensatz zum häufig hohen Tempo mancher Romane und der oftmals zwanghaft wirkenden Thrill- und Pointensetzungen setzt John Lanchester auf eine Art Leseruhe. Er nimmt das Tempo aus dem Alltag und denkt gar nicht daran, den Leser zu hetzen. Vielmehr lässt er ihn einen ruhigen Blick auf die Szenarien werfen. Literarisches Slow-Food, wenn man so möchte. Der Kriminalfall ist während all dieser Zeit zwar präsent, aber nie wirklich vordergründig platziert – er ist schlichtweg ein kleiner Teil einer großen Erzählung.
Wartet man also auf den nächsten Knallermoment oder erwartet, dass die Story mit zunehmender Dauer an Ereignisdichte gewinnt, so dürfte man womöglich von der Langsamkeit dieses Buches des Briten ein wenig genervt sein, ihn insgeheim sogar einen Laberhannes nennen wollen, doch für jene Lesergruppe ist der Roman keinesfalls gedacht. Vielmehr lädt “Kapital” dazu ein, sich in den Sessel, an dessen Beistelltischchen bereits ein Heißgetränk wartet, zu setzen und für ein Weilchen zum Beobachter ganz normaler und total unmöglicher Menschen zu werden, während außerhalb der Buchdeckel die Zeit verfliegt. “Kapital” besitzt eine Art Aquarium-Effekt: Man könnte dem Treiben ewig beiwohnen, ohne dass es langweilig wird. Oder erwartet man von den darin schwimmenden Fischen etwa, die Flossen etwas schneller zu bewegen?
Cover © Klett-Cotta
- Autor: John Lanchester
- Titel: Kapital
- Originaltitel: Capital
- Übersetzer: Dorothee Merkel
- Verlag: Klett-Cotta
- Erschienen: 2012
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 682
- ISBN: 978-3-608-93985-9
Wertung: 11/15 dpt