Der erste Schultag nach den 1999er Osterferien, dem sogenannten Spring Break: In der Nähe seines Heimatorts Vandalia in Kentucky besucht der siebzehnjährige Schüler James Weinbach bereits das dritte Jahr die Osborne Senior Highschool. Er galt schon seit jeher als Streber und Freak – ohne wirklich in eine dieser Schubladen zu passen, denn den Strebern ist er zu freaky, und den Freaks ist er zu streberhaft. James ist selbst unter den Außenseitern absoluter Sonderling. Er ist aus reiner Selbstverständlichkeit höflich anstatt eine Gangsta-Attitüde an den Tag zu legen. Er hört sich lieber alten Jazz statt basslastigen und Paarungsbereitschaft betonenden Hip Hop an. Er, der Gentleman unter all den Proleten, trägt statt Baggy Pants und protzigen Shirts einen Anzug – zuletzt den seines kürzlich verstorbenen Vaters.
Ihm ist die Partygesellschaft, in der es nur noch um Coolness, Sex und Materialismus geht, abgrundtief zuwider, und den Grundstein dieser animalisch-kindischen Entwicklung sieht er im Abschlussball der Highschool gelegt – ein Zeitpunkt, der die Schüler offenbar mehr beschäftigt als die Schule und das Leben selbst. Alles scheint sich nur noch darum zu drehen, mit wem man am Tag X über die Tanzfläche fegen wird, ganz in der Hoffnung, anschließend auch horizontal und halb deliriös in rhythmische Bewegungen zu verfallen.
Doch die etwa ein Jahr ältere Chloe Gummere, die wie an jedem Schultag auch heute wieder auf dem Campus auf ihn wartet, bis er mit seinem schwarzen Lincoln an der Schule ankommt, fällt für ihn aus diesem Raster. Sie ist für seine Begriffe “normal”, scheint ihn zu verstehen, ihn zu mögen, mit ihm auf einer Wellenlänge zu schwingen. Und heute ist der Tag, an dem er sich fest vorgenommen hat, sie, seinen Schwarm, endlich zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen möchte.
Sie war allerdings im Gegensatz zu James, der durch seinen Vater bedingt ganz andere Probleme hatte, wie so viele andere Schüler auf dem Spring Break in Panama City Beach, Florida – eine Tatsache, die ihm seelisch und körperlich Schmerzen bereitet. Noch weniger begeistert ist er von dem, was über sie berichtet wird, denn dort unten in P.C.B. soll sie so gar nicht das Werte schätzende Mädchen gewesen sein, für das er sie bislang hielt.
Nicht nur dieser Schock lässt James‘ Verachtung noch mehr anschwellen, denn auch seine gesamten Mitschüler mutieren in seinen Augen mehr und mehr zu lemminghaften Idioten, die sich nur noch von Pheromonen, fetten Beats und dem nächsten Kick lenken lassen und sich für etwas Besonderes halten. Sie verdienen für ihn kein Mitleid, all diese geistig Minderbemittelten, die glauben, in ihrer trenddiktierten Uniformiertheit so etwas wie Rebellion zu signalisieren, ohne zu merken, dass sie mit als Nonkonformismus misinterpretiertem Konformismus die Konformität nicht etwa unterjochen, sondern sich ihm blindlings hingeben. Nein, diese willenlosen Subjekte verdienen, dass man ihnen ihr Ziel, nämlich Party, Alkohol, Drogen und Sex, schlichtweg nimmt.
James entwickelt und verwirklicht einen perfiden Plan, dessen Bestandteil auch die Erpressung des Direktors der Osborne High ist. Der nämlich hat sich in der Vergangenheit einmal einen sexuellen Fehltritt mit einer Schülerin geleistet. Es dauert nicht lange, und Weinbach hat praktisch die ganze Schule gegen sich. Er wird an diesem Tag Geschichte schreiben.
Der Leser begleitet den Protagonisten an diesem einzigen Schultag, von 7:47 Uhr an bis in den späten Nachmittag hinein. Fast im Minutentakt, lediglich durch Schulstunden in Kapitel unterteilt, wird man Zeuge dessen, was vor und in der Schule geschieht, was James beobachtet, vor allem aber auch, was sich im Innern des jungen Mannes ereignet. Sofort fühlt man sich hin- und hergerissen, ob man nun Sympathien oder eher Antipathien gegen ihn hegen mag, denn in seiner sprunghaften Art überschreitet Weinbach immer wieder Grenzen und verletzt sein Umfeld mit verbalen Dolchstößen, bereut sie anschließend, dann wieder nicht, und selbst er ist oftmals unstet in seinen Gefühlen darüber, wer nun wirklich verachtenswert oder eigentlich doch akzeptabel ist.
In diesen rund acht Stunden herrscht helle Aufruhr in der Schule und in den Köpfen aller Beteiligten, und mit all den Dingen, die in dieser kurzen Zeit geschehen, hätte James nie und nimmer gerechnet, sowohl im negativen als auch im positiven Sinne, und fast so, wie die Minuten der Uhr wechseln, wechselt die Stimmung – ein intensiv brodelnder Cocktail aus Hass, Liebe, Hassliebe, Introvertiert- und Extrovertiertheit, Wut, Resignation, Arroganz und Nachgiebigkeit, Ratlosigkeit und Entschlossenheit bringt Joey Goebels vierten Roman regelrecht zum Kochen, und auch man selbst wird von Seite zu Seite unruhiger, der Körper wabert erst, siedet anschließend, um hinterher wirbeln Blut und Nervenflüssigkeit umher wie die wild blubbernden Wasserblasen in einem Topf, sodass man nach dem Beiseitelegen von “Ich gegen Osborne” ähnlich wie die gerade hocherhitzte Substanz, welche man vom Herd nimmt, erst einmal wieder abkühlen muss.
Goebel hatte in der Vergangenheit mit dem Außenseiterroman “Freaks”, der Story eines gequälten Wunderkindes (“Vincent”) sowie dem sozialkritisch-politischen “Heartland” bereits drei ergreifende und beinahe legendäre Romane geschrieben, doch mit “Ich gegen Osborne” hat der junge Autor ein Werk erschaffen, das mindestens auf Augenhöhe mit “Vincent” ist und schon bald als junger Klassiker gelten könnte. Denn hier wird jede Voraussetzung positiv erfüllt: Das Tempo, die Sprache, die Spannung, vor allem aber die reichlich vorhandene Essenz, die nach dem zerebral vorgenommenen Auswringen übrig bleibt.
Beeindruckend ist auch bei diesem Buch wieder, wie viel Empathie, Lebenserfahrung, Weisheit und auch geistige Reife in all den Zeilen mitschwingt. Das ist an sich kein Kunststück, wenn man mit einer gewissen Intelligenz gesegnet ist, doch wenn man bedenkt, wie jung Goebel, Baujahr 1980, eigentlich erst ist, bleibt einem durchaus die Spucke weg. Hier handelt es sich um einen Autor, der ganz offensichtlich aus reinem Idealismus, mit viel Enthusiasmus und ohne Verkaufszahlenkalkül an seine Arbeit geht – stattdessen bereichert er, ob gewollt oder ungewollt, das Leben anderer, indem er innerhalb der Gehirnwindungen Türen zu Gängen öffnet, von deren Existenz man zuvor nichts wusste.
Foto © Regine Mosimann/Diogenes Verlag
Cover © Diogenes Verlag
- Autor: Joey Goebel
- Titel: Ich gegen Osborne
- Originaltitel: I Against Osborne
- Übersetzer: Hans M. Herzog
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: 03/2013
- Einband: Hardcover, Leineneinband, mit Schutzumschlag
- Seiten: 432
- ISBN: 978-3-257-06853-5
Wertung: 14/15 dpt
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