Wir schreiben den Anfang der Siebziger, “Schwarzer September” – Palästinenser überfallen das Olympische Dorf in München, und zur gleichen Zeit verschwindet mitten in der Sahara ein Geldkoffer, vier Menschen einer Hippie-Kommune werden unweit davon ermordet, und ein mit Niedrig-IQ gestrafter Kommissar versucht nun, Licht ins Dunkel zu bringen. Weitere Figuren: Eine platinblonde Amerikanerin, ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat – und ein etwas desorganisierter Atomspion. Außenherum viel Sand.
Doch das vierte Werk des Ausnahmeschriftstellers Herrndorf ist nicht etwa ein unbedeutendes Sandkorn in der literarischen Wüste, sondern ein richtig schön schwerer Gesteinsbrocken. Vor kurzem durfte der geneigte Leser bereits die Rezension zur Buchversion von “Sand” vorfinden, und anhand seiner Komplexität, seines unsichtbaren Irrgartentums und der reichhaltigen Sprache war es eine große Herausforderung, diesen Roman zu verstehen und für sich Relevantes herauszufiltern. Hilfreich wäre es, das just mit dem Leipziger Buchmessepreis ausgezeichnete Buch nach etwas Abstandgewinnung noch einmal zu lesen – oder es sich gar vorlesen zu lassen.
Dies übernimmt auf der elf CDs starken Hörbuchversion der Mann der tausend Stimmen und Geräusche, nämlich Freigeist Stefan Kaminski, und es war durchaus ein Paukenschlag, dass sich Kaminski gerade an eine solche Veröffentlichung herangewagt hat. Doch sämtliche Bedenken, es könne etwa nicht funktionieren, fegt der Berliner umgehend vom Tisch, denn er lässt “Sand” völlig anders auf den Rezipienten wirken.
Die Charaktere wirken durch die verschiedenen Stimmen plastischer, die Story durch Tempovariation dynamischer, und gerade durch intensives Zuhören fällt ein Groschen nach dem anderen – Dinge, die man beim ersten Lesedurchgang noch gar nicht miteinander in Zusammenhang gebracht hat, teils durch Verdrängnis, teils durch die wahrlich kreuz und quer verlaufenden Fäden der Geschichte, die sich nur schwer verknüpfen lassen wollten, erscheinen jetzt logisch, ja fast selbstverständlich.
Fast könnte man behaupten, dass Kaminski denen den Zugang zu “Sand” ermöglicht, die mit dem phantastischen Buch selbst nicht so recht klargekommen sind. Aus dem Nadelöhr wird praktisch ein Scheunentor.
Cover © argon hörbuch
- Autor: Wolfgang Herrndorf
- Titel: Sand
- Verlag: argon
- Erschienen: 2012
- Sprecher: Stefan Kaminski
- Spielzeit: 13:27 Stunden auf 11 CDs
- Verpackung: Klappdeckelschachtel
- ISBN: 978-3-8398-1153-5
- Sonstige Informationen: Ungekürzte Lesung
Wertung: 12/15 dpt
(Dieser Artikel wurde vom Autor überarbeitet und erschien ursprünglich in noisyNeighbours #36. Vielen Dank für die Gestattung der Artikelübernahme!)