Sollte es bei Wolfgang Herrndorfs Werken je einen gemeinsamen Nenner geben, so ist es der der Unberechenbarkeit, denn einem Genre oder dergleichen lässt sich der gebürtige Hamburger absolut nicht zuordnen. “In Plüschgewittern” konnte man noch als eine Art popliterarischen Roman einordnen, woraufhin der darauf folgende Sammelband ein in Nihilismus mündendes Konvolut aus fünf Kurzgeschichten ist, welche anfangs zusammenhanglos erscheinen und zu einem Mobile der Sinnfragen zusammenlaufen. In beiden dieser… Romane?… spielen teils sehr sonderbare Figuren die Hauptrollen, wobei man sich nach der Lektüre fragen musste: Sind sie eigentlich nicht völlig normal, gar ein wenig wie Du selbst? Und dann kam “Tschick”, ein Zwischending aus literarischem Roadmovie und Jugendroman, der gut und gerne auch als “easy reading” durchgehen könnte.
2011. “Sand”. Ein Roman, beinahe dicker als alle drei Vorgänger zusammen. Ein Buch mit Irrungen. Wirrungen. Enden und Wendungen. Ein Labyrinth, das gleichermaßen ein bis zum Horizont wand-, grenzen- und menschenloser Ort ist. Ein Werk, bestehend aus neunundsechzig von Zitaten flankierten Kapiteln voller bildhafter Wortgewalt, die einen auf überwältigende Art und Weise fast zu erdrücken droht. Mit entwaffnend niedergeschriebenen Gedankengängen, die einem anhand ihrer schonungslosen Wahrheit Tränen der Überraschtheit ob der fassungslosen Übereinstimmung in die Augen treiben. Messerscharfe Präzision und eine selbstverständliche, nie prätentiös demonstrierte Intelligenz als steter Begleiter. Und Feingeist als das Gewürz, welches für den zerebralen Gaumenorgasmus sorgt.
Wir schreiben 1972. Nordafrika, Sahara.
Eine haarblonde Amerikanerin.
Ein gehirnblonder Ermittler.
Ein Atomspion, dessen Hirnwindungen wohl durch Strahlungen etwas zu sehr durcheinander geraten sind.
Ein Mann, der nach einem gewaltsamen Überfall sein Gedächtnis verloren hat und auf der Suche nach seiner Identität ist.
Ein Kriminalfall wartet auf seine Auflösung.
Hippie-Kommunen im Sandmeer.
Zur gleichen Zeit herrscht in München der “Schwarze September”, Palästinenser überfallen das olympische Dorf.
Wie hängt das alles zusammen? Bestehen überhaupt Kohärenzen? Wenn ja: Wo? Wenn nein: Wo nicht? Was ist, was nicht? Und: Was ist überhaupt von Relevanz? Existiert eine solche denn überhaupt? “Protagon-” oder “Stat-” – wer ist welcher “-ist”? Herrndorf strickt mit “Sand” eine Story, die einem undurchsichtigen, komplexen Irrgarten gleicht, durch welchen verschiedene Figuren wandeln, wobei man nicht weiß, welche Figuren nun von Bedeutung sind und welche nicht. Der Leser fühlt sich fast ein wenig wie der Mann, dessen Erinnerungen ausgelöscht sind – letzterer sucht in einem Kapitel mitten in der sengenden Wüste nach Gegenständen, die er verloren zu haben meint, und lässt Handvoll für Handvoll den Sand durch ein sehr grobes Sieb in Form seiner Finger rieseln, in der Hoffnung, ein Ergebnis zu erzielen.
Jedes Sandkorn ein Unikat, jedes so einzigartig und doch bedeutungslos, und irgendwo zwischen all diesen Körnern muss doch etwas sein. Findet der Leser das Etwas? Findet es der Mann ohne Gedächtnis? Ist er nun der, der von einem Szenario ins nächste irrt, oder ist es der sich durch das Buch Grabende, der immer wieder lose Fäden findet, aufgreift, verknüpft, dabei verheerend-zwirnverheddernd kurz vor der Verzweiflung steht, einen Moment der Klarheit erlebt und doch wieder vom Alles ins Nichts, vom Nichts ins Alles taumelt? Von der Komik in das Lebensverneinende. Von Depression gen Sanguinismus. Von faszinierender Buntheit ins Dunkelgrau. Von – nach.
“Sand” ist beinahe wie ein Geheimnis, das es zu ergründen gilt, und es dürfte wohl kaum verwundern, dass der ein oder andere Leser – den Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen – dieses Buch nochmals lesen müssen wird, um Schicht für Schicht hinter das zu kommen, was dort zu finden ist. Oder nicht zu finden ist. Ein Irrgang ohne oder mit Ziel. Einen, den man gern geht, wenn man sich Herausforderungen gerne stellen möchte. “Sand” ist ein Buch, das die Termini “Literatur” und “Kunst” ernsthaft verdient und für welches die Begriffe “Roman” und “Belletristik” beinahe schon eine Beleidigung darstellen. Die Antwort auf alle Lateralfragen, die sich zu diesem Werk stellen, lautet: Jein. Denn: Die Ratlosigkeit und die offenen Fragen tanzen einen wilden Tanz mit der Zufriedenheit und der Gewissheit. Verwirrt nun der Rezensent Dich, den Leser dieses Magazins? Möglicherweise. Oder auch nicht. Lies und geh deinen eigenen Weg. Taste Dich selbst voran. Suche.
Cover © Rowohlt Berlin
- Autor: Wolfgang Herrndorf
- Titel: Sand
- Verlag: Rowohlt Berlin
- Erschienen: 2011
- Einband: Hardcover
- Seiten: 475
- ISBN: 978-3-871-34734-4
Wertung: 13/15 dpt
Diese Rezension ist eine überarbeitete Version des Originaltextes aus noisyNeighbours Heft 35, das man unter dieser Adresse kostenlos herunterladen kann. Vielen Dank fürs “Mitnehmendürfen”!