Im Debüt “Becks letzter Sommer” tauchte als Quasi-Nebendarsteller immer wieder ein gewisser Jesper Lier auf, und im parallel entstandenen zweiten Roman “Spinner” ist jener zwanzigjährige Sonderling die Hauptperson. Jesper, Schiebermütze tragend, spindeldürr und mit ständig kalten Händen, wollte in Berlin einen Neuanfang wagen, lebt nach seiner Vorwärtsflucht mittlerweile gutes Jahr dort und verkriecht sich alsbald in die Arbeit an seinem über 1.200-seitigen Roman “Der Leidensgenosse”.
Er übt ein Praktikum beim Berliner Boten aus, der schwule Gustav ist sein bester Freund geworden, und ansonsten hat Lier… nichts. Eine versiffte Souterrain-Wohnung. Keine Beziehung. Seinen Schlafmangel kompensiert er mit Schlaftabletten, seine Sorgen spült er mit Alkohol weg, und die Verwirklichung all seiner Pläne scheitert vor allem an ihm selbst. Er bewegt sich im Kreis, kommt kein Stück in seinem Leben voran, hat den Drang, alles zu ändern, fällt jedoch immer in seine alten Muster zurück, deren Fundament der Selbstbetrug, das Sich-selbst-etwas-Vormachen ist.
Einige Gabelungssituationen, persönliche Niederschläge und kleine seelische Tode veranlassen ihn schließlich dazu, sein Leben radikal zu ändern, ebenso sich selbst – das wird ihm spätestens bewusst, als er und Gustav seinen früheren Freund Frank nach Berlin holen, raus aus dem Loch seiner Eltern. Frank blüht auf, Jesper hingegen tut die Woche, die Frank schon in Berlin ist, überhaupt nicht gut… er droht nicht nur als Buchautor vor die Hunde zu gehen, sondern auch als Mensch – sein Leben scheint sich in nichts aufzulösen. Er muss sich seinen Ängsten, seiner Vergangenheit und letztendlich sich selbst stellen.
Der Schreibstil dieses Romans ist noch direkter und roher als der des Vorgängers, und dadurch findet der Leser sehr schnell durch einen Tunnel Zugang in die Gedankenwelt des Jesper Lier, zumal es häufig geschieht, dass Lier sich zum Leser wendet und ihn so regelrecht in die Geschichte mit einbezieht. Obwohl die ganzen herrschenden Zustände meist unglaublich tragisch sind, hat man durch bittere Ironie, Situationskomik und bissig geschilderte, gerade gewonnene Erkenntnisse eine Menge zu lachen. Man ist richtig hin und her gerissen: Manchmal würde man diesem peinlichen Jesper am liebsten mal das Zahnfleisch massieren, und dann wieder möchte man über ihn und mit ihm lachen, um diese zerbrechliche, labile Person anschließend einfach nur noch herzlich in den Arm zu nehmen und ihm gut zuzusprechen – und alles am besten durch einen beherzten Sprung in das Buch.
Und wie in den beiden anderen Wells-Veröffentlichungen auch, sind es diese clever platzierten kleinen Weisheiten und Schlüsselsätze, die nicht nur den Roman, sondern auch den Kopf dessen, welcher ihn gerade liest, bereichern. Ja, die Romane eines Benedict Wells sind intensiv, aufwühlend und mitunter gar wachrüttelnd. Lies einen Wells, und Du wirst zumindest ein paar kleine Schritte in Richtung eines besseren, weiseren Menschen in Form von Dir selbst geführt.
Cover © Diogenes Verlag
- Autor: Benedict Wells
- Titel: Spinner
- Verlag: Diogenes
- Erschienen: 2009
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 307
- ISBN: 978-3-257-24054-2
Wertung: 12/15 dpt