Der etwa achtzehn Jahre alte Francis Dean lebt mit seiner Mutter unter finanziell extremen Bedingungen in einem heruntergekommenen Trailerpark in New Jersey, und es scheint ganz so, als ob dieser Platz auf ewig für ihn, den Loser, bestimmt sei. Ein Leben, bestehend aus nichts. Ein Leben, das eher ein Überleben ist. Eines Tages erfährt er allerdings, dass er ein Kind aus der Retorte ist: Francis’ Mutter nahm zur “Zeugungszeit” an einem fragwürdigen Experiment teil, in welchem ausschließlich das Sperma von Genies schockgefrostet wurde, um auf diese Weise extrem intelligente Nachkommen zu züchten. Durch eine undichte Stelle im Netz der Verschwiegenheit kommt er Schritt für Schritt an die Information, dass sein Vater ein genialer Harvard-Wissenschaftler sei.
Seine Mutter landet einmal mehr in der Psychiatrie und unternimmt dort einen Selbstmordversuch. Francis bleibt dadurch weiter in einer Endlosspirale gefangen, sein Leben läuft komplett im Kreis – doch just an diesem Tag, als er bei ihr ist, begegnet er der nur drei Zimmer weiter stationierten, labilen, unsteten und schwer durchschaubaren Anne-May, für die er recht bald mehr und mehr empfindet.
Sie ist das alternierende Leben zwischen Psychiatriewänden und dem strengen Elternhaus endgültig satt und möchte einfach nur noch raus. Weg aus ihrem Teufelskreis. Aus dem alten Leben ausbrechen. Schnell ist Francis klar, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann: Wenn sein Dad schon kein Verlierer ist, kann er unmöglich selbst einer sein. Der junge Mann muss ihn finden, und das so schnell wie möglich. Im selben Zug kann und will er auch Anne-May eine große Hilfe sein.
Grover, ein leicht nerdiger, verschrobener, aber hochintelligenter Querkopf, unterstützt die beiden, und so begibt sich das Trio auf die Suche nach Francis’ Erzeuger – und nach ihrem eigenen Ich. Mit dramatischen Wendungen und emotionalen Achterbahnfahrten gespickt, weiß der Autor mit seinem dritten Roman unglaublich spannende Szenen zu schreiben, und dies tut er in einer extrem lebensnahen, ungeschönten, direkten und nüchternen Art, die unter die Haut geht. Kein unnötiges Geschwurbel, keine grammatischen Mäander, einfach nur klare Worte – diese allerdings werden so clever und geschickt miteinander verwoben, dass man zu dem Schluss kommen muss, dass Genialität nicht zwangsläufig mit einer gehobenen Ausdrucksweise zusammenhängen muss.
Die Bilder, die Wells erschafft, nehmen dem Leser stellenweise regelrecht die Luft, und man hat die ganze Zeit das Gefühl, man befände sich mitten in dieser Story – als unsichtbarer Begleiter. “Fast Genial”, gleichermaßen eine schräge und eine mitten aus dem Leben gegriffene Geschichte, ist auf anspruchsvolle Weise roh und unverfälscht, und das ist eine Begabung, mit der nur wenige Autoren gesegnet sind. Und jener, der diesen Roman und die ebenso edlen Bücher “Becks letzter Sommer” und “Spinner” erschaffen hat, darf zu einem der größten Hoffnungsträger der deutschen, zeitgenössischen Literatur gezählt werden.
Cover © Diogenes
- Autor: Benedict Wells
- Titel: Fast genial
- Verlag: Diogenes
- Erschienen: 09/2011
- Einband: Hardcover
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3-257-06789-7
Wertung: 13/15 dpt
(Dies ist eine überarbeitete Version des Originalartikels aus der 35. Ausgabe des noisyNeighbours-Printmagazins – Download hier. Vielen Dank für die Gestattung der Artikelübernahme!)