David Foster Wallace – Unendlicher Spaß (Buch)


David Foster Wallace - Unendlicher SpaßDass der 1962 in Ithaca, New York geborene Autor ein Meister seines Fachs war, ist kein großes Geheimnis, nehmen wir mal Bücher wie “Kleines Mädchen mit komischen Haaren”, “Der Besen im System” als Beispiel. Oder etwa das Essay “Am Beispiel des Hummers”, welches auch als Hörbuch existiert und hervorragend von Christian Ulmen vorgelesen wird. Auch Wallace’ andere Werke, wie beispielsweise „In alter Vertrautheit“ und „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ gehören in die literarische Champions League – doch erst mit dem 1996 in den USA veröffentlichten “Infnite Jest” hat sich David Foster Wallace den Status einer lebenden Legende erschrieben. Erschüttert musste die Welt erfahren, dass sein Leben am 12. September 2008 endete: Der Schriftsteller musste aufgrund seiner schweren Depressionen mehr als die Hälfte seines Lebens das Antidepressivum Nardil einnehmen. Als er endlich sein Eheglück fand, glaubte er, er sei stark genug, auch ohne dieses Medikament klarzukommen, schlich es langsam aus, musste aber feststellen, dass sich sein Zustand ohne Nardil zunehmend verschlechterte. Fatal: Bei vielen Patienten wirkt dieses Mittel nach einer neuen Medikation erst stark verzögert – oder wie in Wallace‘ Fall gar nicht mehr. An besagtem Datum nahm er sich in seinem kalifornischen Zuhause schließlich das Leben. Rest in peace, David.

Für sehr lange Zeit galt “Infnite Jest” als nicht übersetzbar, doch Ulrich Blumenbach hat es in sechs mühevollen Jahren meistern können, dieses Werk adäquat in die deutsche Sprache zu transportieren. Das brachte ihm einige Auszeichnungen und Preise ein – verdient, wenn man die englische Version als Vergleich heranzieht. Seit 2011 liegt nach der 2009er via Kiepenheuer & Witsch erschienenen Hardcoverausgabe die Taschenbuchversion dieses Monstrums vor, und die überschwänglichen Pressezitate am Anfang des Buches von der Dicke und der Papierstärke eines Berliner Telefonbuchs lassen erahnen, wie sehr sich Kritiker überschlagen, selbst ineinander verknotet und epische Lobesarien gesungen haben. Zu Recht? Dieser Sache wollen wir nachgehen:

Um den Inhalt dieses Werks halbwegs repräsentativ in Textform wiederzugeben, müssten man einen Bildschirm in der Größe einer Fußballfeldfläche installieren, daher lediglich eine kurze Skizze dessen, was in diesem teils satirischen, teils dramatischen Roman geschieht: In nicht all zu ferner Zukunft schließen sich Kanada, Mexiko und die USA zur O.N.A.N. (Organisation Nordamerikanischer Nationen) zusammen und das evakuierte US-kanadische Grenzgebiet soll als riesige Müllkippe herhalten. Der Verlust dieses Gebiets zieht herbe Steuerverluste mit sich, und so arbeitet der Staat dagegen an, indem der gregorianische Kalender abgeschafft wird und die Jahre fortan nicht mehr numerisch benannt werden, sondern Konzerne ein Jahr “kaufen” können. So heißen die folgenden Jahre “Jahr des Tucks-Hämorrhoidensalbentuchs”, “Jahr des Whoppers” – oder wie das Jahr, in dem der Großteil der Story stattfndet, “Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche”. Symbolisiert wird jedes Jahr durch entsprechende optische Anpassungen der Freiheitsstatue.

Nun wollen einige frankokanadische separatistische Terroristengruppen, hierunter die rollstuhlfahrenden “Assassins des fauteuils rollents”, allerdings gegen dieses Staatenbündnis rebellieren. Die Waffe, die hierzu eingesetzt werden soll, ist ein Film namens “Unendlicher Spaß”“, welcher vom Filmregisseur James O. Incandenza vor dessen Selbstmord als Vermächtnis inmitten zahlreicher weiterer Streifen und Kurzflme hinterblieb. Dieser Film lässt jeden, der ihn sieht, innerhalb kürzester Zeit zu einem Säugling und Junkie werden: Man wird abhängig von ihm, vergisst das Essen, das Trinken, das Schlafen, den Toilettengang, einfach alles. Die Gier nach Unterhaltung ist stärker und lässt die Menschen völlig apathisch verenden. So machen sich die Rollstuhlfahrer, aber auch Insassen des Entziehungsheimes Ennet House sowie Studenten der Enfield Tennis Academy auf die Suche nach diesem Werk – doch auch der Geheimdienst nimmt Notiz davon und möchte dessen Verbreitung verhindern.

Die Story mag stellenweise recht verwirrend erscheinen, was daran liegt, dass dieses Buch keiner chronologische Abfolge folgt. Vielmehr springt Wallace zwischen verschiedenen Daten hin und her – das ergibt recht bald Sinn, denn so kann man deutlich besser nachvollziehen, wieso und wann sich gewisse Personen verändert haben. Auch von echten Protagonisten kann man in diesem Buch nicht sprechen, denn im Grunde träfe dieses Prädikat auf rund zwanzig Figuren aus der Unzahl an Charakteren zu: Auf den Rollstuhlfahrer Marathe, den Entziehungsheimleiter Gately, den hochbegabten Junkie und Tennisprofi in spe, Hal Incandenza, dessen Bruder Orin, die mysteriöse Joelle van Dyne. Und auch die Perspektive ändert sich oft – so erzählt Hal in bestimmten Kapiteln in der ersten Person, ansonsten wird von ihm in der dritten Person erzählt. Ebenso verwendet der Autor für jeden dieser Charaktere einen eigenen Schreibstil, sodass man im Kopf sehr gut zwischen selbigen umschalten kann.

Während des Lesens, aber auch danach, ist man permanent damit beschäftigt, die vielen Gedanken und Ereignisse zu entwirren, in etwa so, als säße man vor einem meterhohen Berg völlig ineinander verworrener, auseinandergerollter Paketschnurrollen, zumal der Autor sich auch nicht scheut, den Leser zwischen dem Text und den 388 teilweise seitenlangen Fußnoten im Anhang hin und her zu hetzen – in etwa so, wie ein Tenniscrack seinen Gegner die Grundlinie entlang treibt. Anhand der oftmals sehr, sehr langen, ineinander verschachtelten Sätze, des sonderbaren Vokabulars, der zahlreichen Neologismen und der vielen exotischen Fremdwörter, sind Kritiken laut geworden, dass Wallace sich hier in seinem Ausnahmestatus suhle und aller Welt lediglich zeigen wolle, was er auf der Pfanne habe, um sich dann narzisstisch an den Rezensionen zu seinem literarischen Erguss zu ergötzen, doch letztendlich ist Wallace’ Stil einfach nur etwas gewöhnungsbedürftig und herausfordernd.

Man stelle sich einfach vor, hier sitze ein freakiger Erfinder in seinem Labor und erschaffe auf anarchische, regelnonkonforme Art und Weise eine abgedrehte Maschine nach der anderen – und jede erfüllt ihren Zweck und ergibt Sinn. Dieser blumig-detailreiche, komplexe, unfassbar wortgewaltige Roman ist ein wenig wie eine Safari durch einen noch nie erkundeten Dschungel aus Drogensucht, Depression, Unterhaltungswahn, Politik, Emotion, Anhedonie, Hedonismus, Gewalt, professionellem Sport, Sex, Katatonie, Hysterie, Missbrauch und haufenweise subtiler Ironie, und auf dieser Safari sieht man Exemplare aus Flora und Fauna, denen man zuvor noch nie begegnet ist und die in ihrer bizarren Gestalt schlichtweg faszinieren.

“Unendlicher Spaß” zu bewerten, ist schlichtweg unmöglich – Fakt ist, dass im Gehirn des Lesers einiges passiert. Es werden Kapazitäten freigeschaufelt, von denen man vorher noch nichts geahnt hatte. Es werden Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft, von denen man nie zu träumen gewagt hätte. Man geht mit einer deutlich reicheren Sprache durchs Leben. Und irgendwie hat man nach diesem Buch keine Angst mehr vor anspruchsvollster Literatur.

Cover © rororo/Kiepenheuer & Witsch

 

  • Autor: David Foster Wallace
  • Titel: Unendlicher Spaß
  • Originaltitel: Infinite Jest
  • Übersetzer: Ulrich Blumenbach
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Hardcover), rororo (Taschenbuch)
  • Erschienen: 2009 (HC), 2011 (TB)
  • Seiten: 1552
  • ISBN: 978-3-462-04112-5 (HC), 978-3-499-24957-0 (TB)

Wertung: 14/15 dpt

 

(Diese Rezension stammt ursprünglich aus der Zeitschrift noisyNeighbours, bei der der Autor vor booknerds.de aktiv war. Vielen Dank dafür, dass booknerds.de diese veröffentlichen darf. Der Artikel wurde an diversen Stellen ein wenig modifiziert. Zum Download des Heftes geht es hier.)

 


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