Neunzehn Jahre hatte Johanna Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass sie ihren Vater, der einst bei Nacht und Nebel verschwand, als sie zwei war, wahrscheinlich nie kennenlernen wird. Nach dem Abi ist sie gerade aus der Uckermark nach Berlin gezogen, um dort ihrer Mutter zum Trotz eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin zu machen, da erwartet sie bei ihrem ersten Besuch bei ihrer Mutter nach ihrem Auszug eine verworrene Nachricht ihres Vaters auf dem Anrufbeantworter. Soll sie zurückrufen?
Die Neugier überwiegt und so sitzt sie im Handumdrehen am Sterbebett ihres Erzeugers und versucht, von ihm selbst, ihrer Halbschwester sowie ihrer Oma väterlicherseits das fehlende Wissen über die Vergangenheit ihres Vaters und die Umstände seines Verschwindens in Erfahrung zu bringen. Doch erweisen sich diese Quellen als nicht besonders ergiebig und so reimt sie sich diese Vergangenheit selbst zusammen, um mit ihr abschließen zu können.
Schon wieder ein Entwicklungsroman, noch dazu mit DDR-Bezug? Jein. Die Protagonistin ist selbst zu jung, um sich an die DDR zu erinnern, die älteren Figuren haben kein Interesse daran, über die Vergangenheit zu reden, und der Vater verschwand ein halbes Jahr, bevor die Mauer fiel, sodass die DDR-Geschichte zwar den Hintergrund für Johannas Mutmaßungen über das Verschwinden ihres Vaters bilden, letzten Endes aber lediglich als Basis für ihre Phantasien dienen.
Tatsächlich beobachtet der Leser Johanna bei einer kurzen, aber entscheidenden Phase des Erwachsenwerdens. Sie lernt, alleine zu leben, Personen so zu nehmen, wie sie sind, mehr und mehr die richtigen Fragen zu stellen und sich letzten Endes mit den Dingen abzufinden, wie sie sich präsentieren.
Paula Fürstenbergs Debütroman ist eine einfühlsame und trotzdem nicht schnulzige Geschichte, die sehr anschaulich erzählt wird. Ob es nun um die liebevolle Charakterisierung der ein wenig spleenigen Mutter geht, die immer wieder kranke Wildtiere bei sich aufnimmt, um sie aufzupäppeln, die Darstellung von Johannas zögerlichen Beziehung mit Karl, für die sie in dem Moment nicht offensteht, oder die Beschreibung von Johannas Hobby, dem Landkarten- und Stadtplänesammeln, die Autorin hat ein Herz für all ihre Figuren. Im Zusammenspiel mit diesen Figuren entwickelt sich die Protagonistin auf sehr glaubwürdige Weise von einem unnahbaren, trotzigen Teenie mit Wut über den abwesenden Vater im Bauch zu einer emanzipierten jungen Frau, die gelernt hat zu verzeihen und ihren Weg gehen wird. Schön ist das.
- Autor: Paula Fürstenberg
- Titel: Familie der geflügelten Tiger
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: 08/2016
- Einband: Gebunden
- Seiten: 236
- ISBN: 978-3-462-04875-9
- Sonstige Informationen:
ProduktseiteWertung: 12/15 dpt