Kamel Daoud – Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (Buch)

Kamel Daoud - Der Fall Meursault Cover © Verlag Kiepenheuer & WitschNormalerweise – nun gut, wir können uns hier schon streiten, was die Norm des Normalen denn so sei -, normalerweise also freut sich ein Verlag und mit ihm der Autor, wenn er rund um den Veröffentlichungstermin im medialen Fadenkreuz steht: Die Berichterstattung ist breiter, meistens fällt auch der Titel des neuesten Romans, und am Ende zahlt es sich über mehr verkaufte Bücher auch monetär aus. Es könnte sein, dass es Kamel Daoud mit seinem Roman ‘Der Fall Meursault’ ein wenig anders ergangen ist – denn ihn ereilte das Schicksal, dass die mediale Berichterstattung nach Erscheinen des Romans selbigen völlig überlagerte und er in einen fiesen diskursiven Strudel über seine angebliche Islamophobie geriet.

Dabei begann alles so gut! Der Roman, dessen Untertitel eine „Gegendarstellung“ zum Roman ‘Der Fremde’ von Albert Camus versprach, wurde eifrig rezensiert – soweit der Rezensent dies überschauen kann auch zumeist recht freundlich und positiv aufgenommen. Bis, ja bis zu dem Punkt, an dem ihm, der sich kritisch zu manchen Entwicklungen des Islams und sogenannter Islamischer Staaten (es war nicht der selbsternannte selbige gemeint) äußerte. Prompt unterstellten ihm medienwirksam französische, später auch arabische Intellektuelle, offensichtliche Islamophobie. Dieser hysterische Diskurs soll nun nicht Bestandteil dieser Rezension sein – schauen wir uns also den Roman an: Nicht ganz so verkehrt wäre es, sich die literarische Vorlage des guten alten Albert noch einmal zu vergegenwärtigen. Das führt zu einem deutlichen Mehr an Leselust, denn dieser Roman rekurriert tatsächlich sehr dezidiert auf die Vorlage, oft nur mit kurzen Verweisen, die zwar dezent aber gleichzeitig auch massiv für das Verständnis der Handlung sind.

Der Leser bekommt die Geschichte von einem alten Mann in der Bar erzählt. Dieser stellt sich dem Leser als Bruder des „Arabers“ vor, den Camus’ Protagonist so herrlich indifferent ermorden lässt. In diesem Roman erhält das Opfer seinen Namen, Moussa – und nicht nur das: Der Roman ist eine Gegengeschichte. Er erzählt von der Familie, dem Bruder und der Mutter Moussas, von ihrer Wut, ihrer Verzweiflung und dem existenziellen Nichts (im Gegensatz zum existenzialistischen Nichts bei Camus), vor dem sie nach der Ermordung stehen. Doch das Buch ist keine Anklage! Der Erzähler, der alte Mann in der Bar, schimpft zwar durchaus eines Rohrspatzes würdig, allein, der Autor hat ihn als gebrochene Figur gezeichnet. Der Leser darf ihm, der zwar in extrem verführerischen Suaden zu erzählen weiß, nie trauen. Denn – und auch das zeigt dieser Roman – die sogenannte „Gegendarstellung“ ist nicht nur eine Richtigstellung. Nein, sie ist in großen Teilen eine Spiegelung. So wie Camus’ Protagonist ohne Motiv und Reue einen ihm fremden Araber tötet, so tötet auch Moussas Bruder einen Franzosen – nicht etwa aus Rache an dem Bruder, sondern „einfach so“, weil der Franzose halt da war.

Auge um Auge? Nun, was archaisch anmutet, wäre in heutigen Zeiten schon fast deeskalierend: Wenn man doch nur in dem Ausmaße rächte wie einem Unrecht geschehen ist. So unverfänglich süffig wie der Erzählstil daherkommt, so wuchtig sind die darunter fein vergrabenen Metaebenen. Hier geht es um das postkoloniale Verhältnis der Maghreb-Staaten zu Frankreich, es geht um die aktuellen erosionsreichen Auseinandersetzungen zwischen Nordafrika und Europa und es geht um ein poetologisches Ringen zwischen kühl-intelektueller Analyse und sinnlich-verführerischer Erzählung. Das klingt nach einem Tausendseiter – doch dem algerischen Autor Kamel Daoud reichen für dieses Unterfangen exakt 200 Seiten! Dichtung ist Verdichtung – hier hat die Verdichtung ihren Meister gefunden. Ein wahnwitziges Literatur-Experiment, das mit vielen Vorurteilen und Erwartungshaltungen des Camus-kennenden Lesers kokettiert, sie teilweise evoziert und provoziert, nur um sie zwei Seiten später elegant und süffisant ad absurdum zu führen.

Fast genial – und auf alle Fälle ein lohnender Mindfuck für die geneigten Literaturwissenschaftler in der booknerds-Leserschaft. Für Camus-Leser bleibt das ein süffiges Lesevergnügen; für alle anderen gilt: Leider erst mal Finger weg und zuerst „Der Fremde“ lesen.

Cover © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Eine Übersicht über die Rezeption der Ismal-Kritik Kamel Daouds findet man hier.

Wertung: 13/15 dpt

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