Mick Hucknall zu zitieren ist meist nicht ganz hilfreich – und doch scheint dieser Typ ein wenig recht zu haben, wenn er sagt, das deutsche Publikum gehe in Konzerte, um zu hören, ob ihm oder der Band Fehler unterliefen – und ein wenig ist dies auch auf die großen, überbordenden Romane übertragbar. Setz, Peltzer: beide haben sie sich an spannenden Stoffen abgearbeitet und doch erscheinen ihre Romane so verkopft, als hätten sie Angst, von ihrem deutschsprachigen Publikum verrissen zu werden, Angst vor dem Fehler, Angst vor dem Vorwurf der Banalität, Angst vor dem süffigen Erzählen – dann doch lieber noch mal Heidegger mit rein, Schopenhauer und gewollt komplizierte Handlungsstränge. Nur um dann beim zahlenden Publikum durchzufallen und sich dafür aber von Kritikern sagen zu lassen, man habe große Literatur produziert. Das mag sicherlich so sein – doch große Literatur geht auch anders. Parallel zu den Hochkarätern von Clemens Setz und Ulrich Peltzer erscheint Jonathan Franzens “Unschuld”, ein Roman, der auf seinen mehr als 800 Seiten so einige Fehler mit sich herumschleppt, von denen wir uns drei in bester deutscher Krittel-Manier genauer anschauen. Der Rest aber ist grandios und großes Erzählkino, so viel sei schon mal vorweggenommen.
Ein Fehler ist nicht ihm, sondern dem Verlag beziehungsweise der Übersetzung unterlaufen: Im Amerikanischen lautet der Titel des Romans Purity, also in etwa soviel wie Reinheit. Bei Lichte betrachtet ist “Unschuld” dann doch semantisch meilenweit davon entfernt. Natürlich klingt für deutsche Ohren ‘Reinheit’ etwas unspannender als ‘Unschuld’, doch da die ‘Reinheit’ in den USA ein riesengroßes Thema ist, mit recht befremdlichen Auswüchsen, die weit hinter die Denkleistungen der Aufklärung zurückreichen, ist es im Sinne der Textgenauigkeit und Authentizität schlichtweg falsch, den Roman umzubenennen. Wirtschaftlich und marketingtechnisch ist das allerdings nachvollziehbar, wobei der Rezensent mutmaßt, dass diejenigen, die sich den Roman kaufen, den Roman wegen Franzen und nicht wegen des Titels kaufen – von daher entkräftet sich die Marketingentscheidung doch ein wenig. Aber es ist wie es ist, und so reden wir halt nicht von “neuen Franzen”, sondern von “Unschuld”.
Der zweite Fehler ist wieder nicht Jonathan Franzen selbst anzulasten. Viel eher fassen wir hier einigen deutschsprachigen Kritikern an die Nase, die dem Roman eine wahnsinnig tiefe Bedeutung unterjubeln wollen, um im gleichen Atemzug zu mäkeln, dass Franzen diese hineinintepretierte Bedeutung nur halbgar literarisch umgesetzt habe. Es geht hier um die Konstruktion der Erzählstränge, die über weite Strecken des Romans zwischen dem Sozialismus der DDR und dem Phänomen ‘Internet’ changiert. Hieraus wurde abgeleitet, dass Franzen eine Parallele ziehe. Nun, der Leser mag sich sein eigenes Urteil bilden, der Rezensent hält diese Idee jedoch für ziemlich weit hergeholt und für typisch deutsch. Offenbar kann es nicht angehen, dass ein wenngleich kluger Autor, “nur” die sich immer wieder kreuzenden Lebensgeschichten zweier Protagonisten erzählerisch ambitioniert ausbreitet. Eine ideengeschichtliche, philosophische oder auch nur launige Parallele zwischen Internet und Sozialismus führt Franzen jedoch nie wirklich aus. Wenn er es wirklich vorgehabt hätte, wäre dies in dieser Umsetzung ein literarischer Ultra-Mega-Bug, den man ihm jedoch nicht „zutrauen” würde.
Einen dritten Fehler enthält das Buch mindestens auch noch. Und diesmal kann es keinen anderen Hauptschuldigen geben als Jonathan Franzen. Es sind nur drei, vier Seiten, um die es geht, quantitativ also verschwindend gering. Und doch: Sie sind qualitativ so schlecht, dass der Rezensent das Buch beinahe wütend, auf alle Fälle aber tief enttäuscht, halb gelesen zurück in das Bücherregal gestellt hätte. Es ist die Szene, in der Pip, die Hauptprotagonistin, ihrem Arbeitgeber gesteht, dass sie ihn beruflich hintergangen habe. Franzen beweist auf fast allen Seiten dieses Romans – und das hat er auch schon in allen bislang veröffentlichten Romanen bravurös getan -, dass er wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor menschliche Seelenzustände und die zwischenmenschliche Kommunikation ergründen und literarisch aufarbeiten kann. Doch was ihm hier an Peinlichkeiten, pennälerhaften Beschreibungen und vor allem grottenschlechten Dialogen unterläuft, ist eigentlich unentschuldbar. Das ist großes Fremdschämkino – und man fragt sich, wer hat diese Szene, so wie sie dasteht verbrochen? Der Autor?, der Verlag?, der Lektor? Es ist so, als hätte Franzen 99,8% seines Wortschatzes eingebüßt und sämtliches Gespür für seine Protagonisten verloren.
Trotzdem ist “Unschuld” äußerst lesenswert. Denn Franzen spielt die gerade genannten Stärken voll aus und entwirft ein wahrlich vielfältiges Seelenpanorama, vor dem auch noch eine Vatersuche stattfindet, an Lebensentwürfen gebrochene Lebensläufe ablaufen und mit einigen Auswüchsen des Journalismus abgerechnet wird. Nicht zuletzt lotet dieser Roman die semantischen Bedeutungen von Purity als Reinheit aus. Reinheit, dieses so furchtbare Wort, das eigentlich so unmenschlich ist und doch in den hysterisierten und hysterisierenden politischen und gesellschaftlichen Debatten immer wieder eine Rolle spielt. Übrigens nicht mehr nur in den USA, sondern eben auch in Deutschland. Und diese Exkurse, die Franzen nicht nur als umwerfenden Romancier, sondern auch als brillanten Stilisten und Essayisten zeigen, beweisen, dass sich Erzählen, Intelligenz und Diskurs-Freude sehr wohl vereinen lassen, aber jederzeit und mit jeder neuen Lektüre dieses Roman auch jeweils für sich alleine stehen können.
Wertung: 12/15 dpt
Cover © rowohlt
- Autor: Jonathan Franzen
- Titel: Unschuld
- Originaltitel: Purity
- Übersetzer: Eike Schönfeld, Bettina Abarbanell
- Verlag: rowohlt
- Erschienen: J08/2015
- Einband: Hardcover
- Seiten: 832
- ISBN: 978-3-498-02137-5
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Eine wirklich schöne Rezi. Danke!