“Die Zukunft des Mars” ist ein Grenzgang. Orange gefärbter Schnitt, graue Buchdeckel. Auf dem vorderen ist kreisrund, wie durch ein Teleskop geschaut, das Bild einer Mutter mit ihrer Tochter zu sehen. Die 384 Seiten sind im Blocksatz auf die Seiten gemeißelt und werden niemals durch zeilenweise untereinandergeschriebene Dialoge aufgebrochen. Schrift erhält ihren maximalen Raum – Papier ist ein knappes Gut auf dem Mars – und abgesehen von den notwendigen Absätzen wird jede Zeile maximal ausgenutzt. Direkte Rede gibt es selten. Der Leser verfolgt zuerst den verbotenen Bericht eines Chronisten in der Mars-Kolonie. Die hier beschriebene Lebenswelt ist weit entfernt von einer Ähnlichkeit zur Erde oder einer Kontinuität mit der Menschheitsgeschichte. Zunächst bleibt die Mars-Chronik in Teilen zwar nicht unverständlich, jedoch schwer vorstellbar. Wie Linsen drehen sich die Überschriften der vier großen Teile des Buchs gegeneinander. Und im zweiten Teil beobachtet der Leser das Geschehen auf der Erde, deren uns bekanntes Bild durch eine nicht allzu ferne Zukunft vor allem aber durch den “großen Winter” verändert wurde. Die meisten elektrischen Geräte und gespeicherten Daten haben einen elektromagnetischen Sturm nicht überdauert. Die Reichweite der Menschen hat sich radikal verkleinert, die Welt ist wieder groß geworden, Amerika ist nur ein mythisch-paradiesischer Ort für die Leute im Friedensgebiet “Germania”, das in chinesische Protektorate und Provinzregierungen zersplittert, kleinere Scharmützel mit Terroristengruppen aussteht. Man beobachtet Elussa und ihre Tochter Alide. Elussa ist Dolmetscherin und Lehrerin mit einer großen Intuition für Fremdsprachen. Sie gibt dem alten Herrn Spirthoffer, der ein elektronisches Hospital betreibt und elektrische Geräte aus besseren Tagen repariert, Unterricht in Russisch. Alide ist bei den Nachhilfestunden immer dabei und macht ihre Hausaufgaben. Schnell kann man beobachten, dass “Opa Spirthoffer”, wie Alide ihn immer nennt, bereits ganz gut Russisch spricht und eigentlich etwas anderes mit den beiden Damen plant. Die Mars-Kolonie ist über den großen Winter in Vergessenheit geraten und hat sich, abgeschnitten von ihrer Ursprungskultur, zu einer analphabetischen, abergläubischen, naiv-funktionierenden, pseudo-naturnahen, leicht paranoiden, vollständig disziplinierten Gesellschaft entwickelt, die nicht mehr auf das Wissen der übrigen Menschheit zurückgreifen kann. Porrporr ist der Chronist, den es nicht geben darf. Er erzählt uns in seiner Funktion als Rettungssanitäter von gescheiterten Versuchen der Erden-Menschen, zur Kolonie zu reisen. Alle Besucher tauchten plötzlich aus dem Nichts auf und erfroren binnen kürzester Zeit. Manchmal erscheinen aber auch Bücher von der Erde, die in der Kolonie als heilige Bücher verehrt werden. Doch nur Porrporr ist in der Lage, die Sprache der Bücher, lexikonähnliche Wälzer, zu verstehen und plötzlich – so fängt “Die Zukunft des Mars” an – überkommt Porrporr der Wunsch, selbst etwas aufzuschreiben. Er beginnt mit einer unbeholfenen, statischen, gesetzmäßigen Sprache, die letzten freien Seiten der Bücher so platzsparend wie möglich vollzuschreiben. Der Leser erhält Einblick in die Abläufe der Kolonie. Orangefarbener Warmstein zum Beispiel wird für vieles verwendet und ist eine Art Energiequelle. Auch Graustein und Steinschmalz finden Verwendung. Genauso wie eine kaum in Begriffe zu fassende Mannigfaltigkeit namens Mokkmokk, die einerseits als gigantisches Lebewesen unter der Kolonie Tunnel gräbt, andererseits kugelrunde Gebilde bezeichnet, aus denen die Kolonisten von Nahrung bis zu Brillengläsern alles herstellen können, weil beinahe alle denkbaren Eigenschaften in verschiedenen Schichten dieser Kugeln zu finden sind. Porrporr stellt in seinen Aufzeichnungen außerdem Spekulationen über die Erde an, deren Lebenswelt er aus seiner geheimen Lektüre der Bücher zwar sprachlich vermittelt bekommt, aber kaum verstehen kann. »Ich verstehe nicht, was Geld ist. (…) Geld ist offenbar in besonderer Weise beweglich (…). Obwohl Ihr Euch diese tippelige Zukunftsflucht auf mannigfaltige Weise zunutze macht, seid Ihr zugleich auf sorgend ängstliche Weise um den Bestand des Geldes, fast um seinen Stillstand bemüht. Auf widersprüchlich sinnige Weise scheint es Schwundgeld und Bleibgeld in einem zu sein. So versuche ich mir sein Wesen bildlich zu verdeutlichen, da ich es nicht gut in feste Begriffe fassen kann. Manchmal dachte ich sogar, Geld wäre ein Wort für eine Art von Zeit, die wir nicht kennen.« Während nun in der Kolonie außergewöhnliche Ereignisse eintreten und “Freund Mokkmokk” Schwierigkeiten macht, kann Porrporr sein verbotenes Wissen und seine Fähigkeiten kaum noch geheim halten. Auch auf der Erde geschehen in Opa Spirthoffers Hospital unschöne Dinge. Für Leser bevorzugt generischer Science Fiction ist das Buch mit Vorsicht zu genießen. Obwohl es einmalige Schilderungen neuer Umwelten und postapokalyptischer Lebensumstände enthält, ist die Lektüre des Buchs aufgrund der permanenten Indirektheit gewöhnungsbedürftig. Wie viele Autoren, die nicht aus dem Genre-Bereich kommen, verwendet auch Georg Klein SciFi-Elemente funktional und strapaziert sie weit über den bloßen Weltentwurf hinaus. Es gelingt ihm, ein Culture-Science-Fiction-Experiment zu entwickeln, bei dem verschiedene Kulturtechniken (Wissenschaften, gesellschaftliche Institutionen, Erinnern) und Medien (Sprache, Bilder, Aufzeichnungstechniken, Wiedergabetechniken) in ihren Grenzbereichen belastet werden. Das Buch selbst ist so eine Technik und wird im Laufe seines Inhalts immer wichtiger. Man muss sich am Ende fragen, was man da eigentlich, orange und grau, in der Hand hält (weswegen die Ebook-Ausgabe nicht nur haptisch und ästhetisch meilenweit hinterherhinken wird sondern auch die gesamte Erzählung schief stehen lässt).
Cover © rowohlt
- Autor: Georg Klein
- Titel: Die Zukunft des Mars
- Verlag: rowohlt
- Erschienen: August 2013
- Einband: Hardcover, quantenmechanisch verschränkt
- Seiten: 384
- ISBN: 978-3-498-03534-1
- Sonstige Informationen:
Erwerbsmöglichkeit
Wertung: 13/15 dpt